Битеф

Prozeß zwischen Subjekt und Mythos verleiht dem Text sein unverwelkt Modernes, wofern man ihm sich zuwendet, ohne von der Autorität der gängigen Lliteraturhistorie sich imponieren oder irritieren zu lassen. Was an geschichtlicher Bewegung der Iphigenie sich mitteiite, datiert zurück auf den Protest des jungen Goethe und seiner Freunde gegen den schuldhaften Aspekt von Zivilisation, auf den unterm endenden Absolutismus grelles Licht fiel. Natur sollte sich befreien vom usurpatorisch Gesetzten, die unverstümmelte Regung nicht länger verschnitten sein. Das zivilisatorische Moment jedoch ist eines von Kunst selber als eines Gemachten, aus dem Naturzustand Heraustretenden. Die Parole, Kunst solle wieder Natur werden, die bis in den deutschen Idealismus hinein widerhallt, hat soviel Wahrheit wie Unwahrheit... Soweit in der damals neuen Kunst die Stimme des mündigen Bürgertums laut wurde, hatte sie an dem antimythologischen Moment ihre historische Aktualität, feind illegitimer Legitimität, rechtlosem Recht. Nicht länger als für eine polemische Sekunde jedoch war Kunst als reiner Widerpart zu Zivilisation denkbar; ihr pures Dasein desavouiert das Aufftrumpfende, Barbarische, Provinzielle von Tiraden wie der Schillerschen vom tintenklecksenden Säkulum ...

Während Goethe einlenkte und radikale Neurungen der Form sistierte, die am Ende doch, über ihn hinweg, nicht aufzuhalten waren, verhielt er andererseits, an der Zivilisation sich messend und unter Verzicht auf angedrehte Genietöne, sich moderner als die Hainbündler, Strürmer und Dränger und frühen Romantiker. Er sah, daß, wer überhaupt den Vertrag honoriert, den jedes Kunstwerk ihm unterbreitet, dessen immanenter Gesetzlichkeit, der Objektivation sich verpflichtet. Gebärdet er sich, als wäre er über diese hinaus, erweist er in der eigenen Produktion meist sich als ohnmächtig. Nicht mangelndem Talent so groß angelegter Autoren wie Lenz war zuzuschreiben, was den Sturm und Drang-Dichtungen an Kraft abging. Goethe mußte darin die Vergeblichkeit des Gestus von Unmittelbarkeit im Stand universaler Vermittlung erkennen. Sein Klassizismus archaisiert nicht. Das spezifisch Antikische der Iphigenie bringt eher ein Potential seines dichterischen Ingeniums zutage, als daß er, wie Schiller, in den Fundus gegriffen hätte. Fürchtete man nicht die Paradoxie, so ließe wohl sich verteidigen, das eigentlich Antike des klassizistischen Goethe, das mythische Element, sei kein anderes als das chaotische seiner Jugend. Vermöge seiner Objektivation wird es gleichsam in die Vorwelt zurückgesiedélt, nicht zur Fassade ewiger Gegenwart aufgeputzt... Eben weil Goethe nicht archaisiert, fällt seiner Dichtung ein Archaisches zu. Umsonst nicht verlegt

er sein griechisches Drama, anstatt in attisch-klassische Verhältnisse, in ältere, exterritoriale. Die pragmatische Voraussetzung der Iphigenie ist Barbarei. Will man von Goethes Klassizismus mehr verstehen, als daß er die Aristotelischen Einheiten restaurierte und der Jamben sich bediente, so wird man davon auszugehen haben, daß die Zivilisation, aus der Dichtung nicht ausbrechen kann und die sie doch durchbrechen will, in der Dichtung thematisch wird. Iphigenie und Tasso sind Zivilisationsdramen. Sie reflektieren die bestimmende Macht der Realität, vor welcher der Sturm und Drang sich die Augen verband. Insofern sind sie realistischer als dieser, im geschichts-philosophischen Bewußtsein adäquater... Im Zentralstück der Iphigenie, dem Wahnsinnsmonolog des Orest, läßt Goethe den Klassizismus so tief unter sich wie das Metron die Jamben, Reprise der freien Verse seiner Frühzeit. »Wir sind hier alle der Feindschaft los.« Die Befriedigung des Mythos in der Unterwelt, Orests Vision, transzendiert, was irgend griechisch vorstellbar war. Die Tantaliden, Urfeinde. sind versöhnt, Atreus und Thyestes, Agamemnon und Klytämestra, auch diese und Orest, mir der christlichen Anspielung »Sieh deinen Sohn«, in der Humanismus zur blasphemischen Mystik sich steigert. Was an Chiliastischem hier die Pforten der Antike sprengt, ist dem offiziellen westlichen Christentum so fremd wie der mittleren Humanität: anklingt die Lehre von der Apokatastasis; der Erlösung selbst des radikal Bösen, der vollendeten Sündhaftigkeit. Paradox genug, und sicherlich ohne Goethes Wissen, wird dem in russisches Gebiet verschlagenen Griechen die zentrale religiöse Konzeption der Russen in den Mund gelegt, die in deren eigener Literatur erst viel später ihr Wort fand. Es ist aber diese Vision, die das Gehege der Kultur niederreißt, das sonst der Humanität der Iphigenie zuliebe aufgebaut wird. An jener avanciertesten Stelle seines Stücks dient Goethe der ganzen Humanität, indem er die Tabus der halben, domestizierten verletzt, die auf ewige Höllenstrafen nicht verzichten mag. In der Totalität des Stücks freilich behalten jene die Oberhand. Dem die Dichtung die Stimme von Utopie anvertraute, den schwärzt sie zugleich als Wahnsinnigen an. Utopie wird ihrer Unmöglichkeit geziehen, wo sie sich regt; wer sie erblickt, muß verwirrten Geistes sein ... Sind, nach Freuds Einsicht, die Mythen Urbilder der Neurosen, so verinnerlicht der Dichter des bürgerlichen Zeitalters den mythischen Fluch zum neurotischen Konflikt. Er entführt den Orest ins Weltalter nach dem Mythos. Sein Verhältnis zum Mythos ist nicht das zugehörige antiker Heroen, sondern das einer erzwungenen Rückkunft, die dann in der Wahnsinnsszene Sprache wird. Zur Schwester sagt er: »Und laß dir raten, habe/Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne:/Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!« Verse, die genügten, allen