Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Gemſe: Bewegungen. Sinnesſchärfe. 407

Die oben Angekommenen zerſtreuten ſi<h keineswegs auf der Weide, ſondern blieben am Felſenrande auf der Spähe, bis die lebten ſi< glü>li< zu ihnen geſellt hatten.“ Dieſelbe Vorſicht und dasſelbe Geſchi> beweiſt die Gemſe, wie mir ein erfahrener Gemſenjäger mitteilte, beim Überſeßen der rauſchenden Wildbäche des Gebirges. Nötigen Falles ſpringt ſie allerdings mitten ins Waſſer und ſchnellt ſi< dann weiter; wenn ſie jedo<h niht bedrängt iſt, überlegt ſie erſt lange, an welcher Stelle ſie den Übergang bewerkſtelligen ſoll, läuft zu dieſem Ende am Wildwaſſer entlang, beſichtigt die verſchiedenen Stellen, welche ihr Vorhaben ausführbar erſcheinen laſſen, und wählt die geeignetſte. Hart verfolgt, geängſtigt oder verwundet wirft ſie ſih ſelbſt in die Wellen eines Alpenſees, in der Hoffnung, ſ{hwimmend Rettung zu finden. Eine ungewöhnliche Ortskenntnis kommt der Gemſe bei ihren kühnen Wanderungen ſehr zu ſtatten. Sie merkt ſih jeden Weg, welchen ſie nur einmal gegangen, und kennt in ihrem Gebiete ſozuſagen jeden Stein; deshalb gerade zeigt ſie ſih ebenſo heimiſ< im Hochgebirge, wie ſie unbeholfen erſcheint, wenn ſie es verläßt. „Fm Sommer 1815“, berihtet Tſchudi ferner, „ſtellte ſih, zu niht geringem Erſtaunen der Augenzeugen, plößlih ein wahrſcheinli<h geheßzter Gemsbo> auf den Wieſen bei Arbon ein, ſette ohne unmittelbare Verfolgung über alle He>en und ſtürzte ſih in den See, wo ex lange irrend umherſhwamm, bis er, dem Verenden nahe, mit einem Kahne aufgefangen wurde. Einige Jahre vorher wurde im Rheinthale eine junge Gemſe im Moraſte ſte>end lebend ergriffen.“

Die Sinne der Gemſe ſind verſchieden ſcharf, aber keineswegs ſ{<hwächer als bei anderen Tieren ihrer Verwandtſchaft entwi>elt. Geru<h und Gehör ſcheinen am beſten, das Geſicht minder gut ausgebildet zu ſein. Die Schärfe des erſteren Sinnes offenbart ſich niht allein dur< ihre feine Witterung, ſondern auh dur< ein überraſchendes Spürvermögen, welches ſie befähigt, eine Fährte aufzunehmen und ihr mit Sicherheit zu folgen. So ſieht man bei Treibjagden in Hochgebirgswäldern zuweilen verſprengte Kißchen denſelben Weg, welchen mehrere Minuten vorher die Muttergeiß notgedrungen wählen mußte, mit ſolcher Sicherheit aufnehmen, daß man ſi dieſes genaue Folgen nur dur< Annahme eines außerordentlihen Spürvermögens erklären fann. Ebenſo gewahrt man, daß Gemſen jederzeit ſtußen, niht ſelten ſogar zurü>kehren, wenn ſie die Spur eines Menſchen kreuzen. Hinſichtlih der Witterung ſtehen unſere Gebirgsantilopen wahrſcheinlih keinem Mitgliede ihrer Familie nah. Wer Gemſen beobachten oder ſi ihnen nähern will, hat den Wind auf das ſorgfältigſte zu prüfen, weil ſonſt die ſcheuen Tiere unbedingt entfliehen. Auf wie weithin ihre Witterung reicht, läßt ſih niht mit Beſtimmtheit feſtſtellen, wohl aber kann man behaupten, daß ſie die Entfernung eines Büchſenſhuſſes no< erheblich überſteigt. Jedenfalls iſt der Sinn des Geruches derjenige, welcher die Gemſe ſtets am erſten und am untrüglichſten vom Herannahen einer Gefahr überzeugt und, was dasſelbe, ſofort zur Flucht bewegt. Das Gehör täuſcht ſie, obgleih es ebenfalls ſehr fein iſ, weit eher. Um das Poltern der herabfallenden Steine bekümmert ſie ſi< gewöhnlih ſehr wenig: denn dieſes iſt ſie im Gebirge gewohnt; ſelbſt das Krachen eines Schuſſes macht niht immer einen beſonderen Eindrut auf ſie. Wenn Gemſen erfahren haben, was der Schuß zu bedeuten hat, und ſie das Krachen desſelben rihtig erkennen, ergreifen ſie freili<h ohne Beſinnen die Flucht; in vielen Fällen aber ſtußen ſie na< dem Knalle und geben unter Umſtänden dem Jäger Gelegenheit, ihnen eine zweite Kugel zuzuſenden. Dies erklärt ſi<h zum Teile daraus, daß es im Gebirge au< für den Menſchen ſehr ſ{hwer iſt, zu beurteilen, in welcher Nichtung ein Schuß fiel, oder ſelbſt, ob man einen ſolchen und niht das Knallen eines ſi loslöſenden und unten aufſ<lagenden Steines vernahm. Das Geſicht unſerer Tiere beherrſ<t unzweifelhaft weite Fernen, leitet ſie jedo<h niht beim Erkennen ſtill oder gede>t ſtehender Feinde. Wie die meiſten Tiere ſcheinen ſie den ſih ruhig verhaltenden Menſchen nicht als ſolchen zu erkennen und erſt dann einen Gegenſtand der Furcht in ihm zu erblien, wenn er ſich bewegt.