Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

Hervrenſbeht: Lebensweiſe. Weſen. Nahrung. 611

Das Weibchen erkennt man daran, daß es ſchreiluſtiger und vorſichtiger als das Männchen iſt. Die Fortpflanzung beginnt früher als bei anderen Spechten, ſhon im März. Das Neſt wird, wie ih glaube, immer in dem Stamme eines lebenden Baumes angelegt, am liebſten in einer Eſche, regelmäßig in bedeutender Höhe. Die Vögel ſind ſehr vorſichtig in der Wahl des Baumes und des Anlagepunktes der Höhle, weil ſie Zurü>kgezogenheit lieben und ihre Neſter vor dem Regen geſhüßt wiſſen wollen. Deshalb iſt der Eingang gewöhnlich unmittelbar unter der Verbindungsſtelle eines ſtarken Aſtes in den Stamm gemeißelt, die Höhlung, je na< den Umſtänden, mehr oder weniger tief, man<hmal bloß 25 cem, zuweilen aber über 1 m tief. Der Durhmeſſer der Neſthöhle, die ih unterſuchte, betrug etwa 15 em; das Eingangsloch iſt jedo< nie größer, als daß der Vogel gerade einſhlüpfen kann. Beide Gatten des Paares arbeiten an der Aushöhlung und löſen ſi< we<ſelſeitig ab. Während der eine meißelt, wartet der andere außen und feuert ihn an. J< habe mi<h an Bäume herangeſ<hlihen, während die Spechte gerade mit dem Baue ihres Neſtes beſchäftigt waren, und wenn ih mein Ohr gegen die Rinde legte, konnte ih deutlih jeden Schlag, den ſie ausführten, vernehmen. Zweimal habe i<h beobachtet, daß die Elfenbeinſhnäbel, nahdem ſie mi<h am Fuße des Baumes geſehen hatten, das Neſt verließen. Fn Kentu>y und Jndiana brüten ſie ſelten mehr als einmal im Fahre, in den ſüdlihen Staaten zweimal. Das erſte Gelege beſteht gewöhnlih aus 6 Eiern von rein weißer Färbung, die auf einige Späne am Grunde der Höhle gelegt werden. Die Jungen ſieht man {hon 14 Tage vor ihrem Ausfliegen zum Eingangsl[oche herausſhauen. Jhr Jugendkleid ähnelt dem des Weibchens, doch fehlt ihnen noch die Holle; dieſe aber wächſt raſch heran, und gegen den Herbſt hin gleicen ſie ihrer Mutter ſchon ſehr. Die Männchen erhalten die Schönheit ihres Gefieders erſt im nächſten Frühjahre.

„Die Nahrung beſteht hauptſählih in Käfern, Larven und großen Würmern; ſobald aber die Beeren in den Wäldern reifen, frißt der Vogel gierig von dieſen. Jh habe geſehen, daß er ſi< in derſelben Stellung wie unſere Meiſen mit den Nägeln an die Weinreben hängt. Au Perſimmonpflaumen ſucht er ſih zuſammen, wenn dieſe Frucht gereift iſt; niemals aber geht er Korn oder Gartenfrüchte an, obgleih man ihn zuweilen auf den in den Getreidefeldern ſtehenden Bäumen arbeiten ſieht. Seine Kraft iſt ſo groß, daß er Rindenſtü>chen von 15—18 cm Länge mit einem einzigen Schlage des mächtigen S<hnabels abſpalten kann, und wenn er einmal bei einem dürren Baume begonnen hat, ſchält er oft die Rinde auf 6—10 m Fläche in wenigen Stunden ab.

„Wenn er verwundet wird und zum Boden fällt, ſucht er ſo ſchnell wie möglich einen naheſtehenden Baum zu erreichen und ſteigt an ihm mit der größten Schnelligkeit bis zu den Wipfelzweigen empor, dut ſih nieder und verſte>t ſi hier. Während er auſſteigt, bewegt er ſich in Schraubenlinien rund um den Baum und ſtößt faſt bei jedem Sprunge ſein „Pät pät pät‘ aus, ſ{hweigt aber, ſobald er einen ſicheren Plag erreiht. Tödlich verwundet, krallt er ſi< oft ſo feſt in die Rinde, daß er noh mehrere Stunden nach ſeinem Tode hängen bleibt. Wenn man ihn mit der Hand faßt, ſo lange er noch lebt, verwundet er heftig mit dem Schnabel und den Krallen, ſtößt aber dabei traurige und klägliche Schreie aus.“

Wilſon verſuchte einen Elfenbeinſchnabel in Gefangenſchaft zu halten, fand aber, daß dies ſeine Schwierigkeiten hat. Der in Rede ſtehende Specht war ein alter Vogel, der erſt verwundet und dann ergriffen wurde. Er ſchrie in der bereits angegebenen Weiſe wie ein tleines Kind und erſchre>te dadur<h Wilſons Pferd ſo, daß es ſeinen Reiter in Lebensgefahr brachte. Als dieſer mit ſeinem ſchreienden Vogel durch die Straßen von Wilmington ritt, rannten alle Weiber ängſtlih an Thür und Fenſter, um ſich über den entſetzlichen Lärm zu unterrichten, und vor dem Wirtshauſe mußte unſer Forſcher ein wahres Kreuzfeuer von

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