Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 3

594 Dritte Ordnung: Schildkröten; fünfte Familie: Landſchildkröten.

„Jm Freien habe ih dieſe Schildkröten niemals Schne>en oder Kerbtiere fangen ſehen; dagegen freſſen ſie mit Gier Salat, Wirſing und anderen Kohl, junge Khabarberblätter und andere zarte und ſaftreiche Pflanzen. Jhr Appetit richtet ſich nach der ſie umgebenden Wärme; iſt es ſehr heiß, ſo ſigen ſie halbe Tage lang an ihrem Futter und freſſen faſt beſtändig. Nachts gehen ſie niemals der Nahrung nah. Anfangs waren die Tiere [heu und fraßen nur bei vollkommener Ruhe des Beobachters. Später ſcheuten ſie ſi<h — das Weibchen früher als das Männchen — niht, in meiner Gegenwart ſogleih an friſhem Futter anzubeißen, ja, das Weibchen liebt es ſogar, daß ih ihm den Salat vorhalte, da ihm das Freſſen dann weit bequemer gemacht wird. Jn der freien Natur zeigt ſi ihnen ja auh das feſtgewachſene Blatt weniger nachgiebig als loſe hingeſtreute Blattreſte, bei deren Vertilgung ſie ſtets mit den Vorderfüßen nachhelfen müſſen. Beim Freſſen wird das Maul ru>weiſe geöffnet, und die klebrige, orangen- bis fleiſhrote Zunge ſpielt bei dieſer Thätigkeit eine Hauptrolle. Die von den ſ{<hneidenden Rändern des vorn ed>ig gezähnten Oberkiefers loſe getrennten, aber no< niht vollſtändig abgeſchnittenen Blattteile werden beim zweiten Öffnen des Kiefers von der über deſſen Ränder herausquellenden Zunge abgelöſt oder, beſſer geſagt, abgedrü>t und dann ſogleich mit dem nächſten Schließen der Kiefer ein weiterer Blattteil abgekneipt, ſo daß die Einzelbiſſen noh teilweiſe miteinander zuſammenhängen. Nach der Mahlzeit geben ſie mitunter eine für ein ſo Éleines Tier verhältnismäßig ſehr bedeutende Menge eines klaren, nur wenige weiße, faſerige Flökchen enthaltenden Urins ab. Auffallend iſt jedoch, daß ih ſie niemals habe ſaufen ſchen, und ganz ſicher iſt, daß dieſe Schildkröte monatelang, wie ih es erprobt habe, Trinkwaſſer entbehren kann. Die Loſung wird häufiger und ſtets zeitlih getrennt vom Urin entleert und iſt grün und feſtbreiig dur<h unverdaute Stengel- und Blattreſte.

„Die einzige Stimme, die man von ihr vernimmt, iſt ein furzes, ſ<naubendes Ausblaſen der Luft aus der Naſe. Dieſes Fauchen hört man aber nur dann regelmäßig, wenn man das Tier plößlich in der Nähe des Kopfes angreift oder erſhre>t. Es iſt ſtets begleitet von einem plößlichen Zurückziehen des Kopfes unter den Panzer und kann drei- bis viermal hintereinander wiederholt werden, wenn man das Tier dur plöblihes Vorhalten des Fingers ebenſo oft erſhre>. Auf ſol< ſchnellen Angriff von vorn erfolgt im wachenden Zuſtande überhaupt immer ein Zurücziehen des Kopfes, während es, langſam oder mäßig \hnell von der Seite angegriffen, den Kopf kaum oder nicht einzieht.

„Über die geiſtige Begabung der Horsfieldſchen Schildkröte iſt wenig zu ſagen; ſie iſt unzweifelhaft überaus gering. Jedenfalls iſt das Geſicht ihr Hauptſinn, mit dem ſie die Nahrung zu erkennen und vielleicht auch kleinere Entfernungen zu ſchäßen vermag; Geruch und Gehör ſind ſchwächer, aber etwa gleih gut oder, wenn man will, gleih ſ{<le<t entwi>elt. Ein kurzes Beſchnuppern der Nahrung vor dem Fraße und eine gewiſſe Empfindlichfeit gegen Tabaksrauh laſſen den erſtgenannten Sinn, das plößliche Jnnehalten beim Freſſen bei geräuſchvoller Annäherung des Beobachters den leßteren erkennen. Auch der Geſhma> iſt niht ganz unentwicelt, da die Tiere weihe und ſaftige grüne Blätter härteren und dunkleren entſchieden vorziehen. Jm allgemeinen finde ih in dem Benehmen der Tiere feinen durchgreifenden Unterſchied von dem der anderen verwandten Arten, muß aber do zugeben, daß ſie im Laufe der Zeit dur den öfteren Verkehr mit Menſchen und dur das häufige Berühren und Angreifen viel weniger ſcheu geworden ſind als anfangs. Doch bleibt ihnen ihr Pfleger immer läſtig und unbequem, und ihr ganzes Sinnen und Trachten richtet ſih nah dem einen Grundſaß, ſih ihm ſobald wie möglich dur< die Flucht zu entziehen.

„Bei guter Nahrung hatte das Männchen in zwei Sommermonaten ſein Gewicht von 590 g auf 640g, das Weibchen von 825 g auf 860 g erhöht.“