Die Klassengegensätze von 1789 : zum hundertjährigen Gedenktag der grossen Revolution

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Angeſichts dieſer Kämpfe der Kliquen um die Perſon des Königs, die ihn bald auf dieſe, bald auf jene Seite zerrten, wie die Achajer und Trojaner den Leichnam des Patroklus, angeſichts des Zwieſpalts, der dem Königthum des leßten Jahrhunderts von vornherein anhaftete, da der König gleichzeitig Haupt der Verwaltung des modernen Staates und Haupt des Feudaladels war, bedurfte es beſonderer Klarheit und Karakterfeſtigkeit ſeitens des Staatsoberhauptes, um wenigſtens einigermaßen Einheitlichkeit in der Regierung zu erhalten. Die Konfuſion mußte heillos werden, ſobald ein von Natur aus haltloſer Karakter das Staatsruder in die Hände bekam. Ein ſolcher Karakter war Ludwig XVI. Seine Situation wurde jedo< niht verbeſſert dadur<h, daß Marie Antoinette, ſeine Gemahlin, den gerade entgegengeſeßten Karakter beſaß, einen Eigenſinn, den ihr Hochmuth noch verderblicher machte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es no< andere Bedürfniſſe gebe, als die des Hofes. Jn ihren Augen hatte das Königthum nur eine Aufgabe, den Hof zu amuſiren und mit Geld zu verſehen.

Wir werden gleich ſehen, was das bedeutete. /

ITT, Adel und Geiſtlichkeit.

So gering an Zahl Adel und Geiſtlichkeit waren*), nur ein Theil davon, und keineswegs der größere, führte im 18. Jahrhundert jenes üppige, luxuriöſe Leben, entfaltete jenen Glanz und jene tolle Verſchwendung, die man als die karakteriſtiſchen Merkmale der Geſellſchaft der Privilegirten vor der Revolution betrachtet. Nur die Spißen des Adels und der Geiſtlichkeit, die Herren ungeheurer Ländereien, konnten ſi<h jenen Luxus und jene Verſchwendung erlauben, in dem Glanz ihrer Salons, der Pracht ihrer Feſte, der Großartigkeit ihrer Bauten miteinander wetteifern — der einzige Wetteifer, der noh dem Adel geblieben war. Zu einem Wetteifer auf Gebieten,” wo nur perſönliche Tüchtigkeit entſchied, war er längſt zu träge und zu karakterlos geworden. Der

*) Taine ſchätzte die Zahl der Adeligen und Geiſtlichen zuſammen auf ungefähr 270000. Dem Adel ſchreibt er 25—30000 Familien mit 140000 Mitgliedern zu, dem Klerus 130000 Mitglieder, darunter ca. 60000 Pfarrer und Vikare, 23000 Mönche und 37000 Nonnen. (Taine, Les origines de la France contemporaine, I, 17, 527.)