Die Physiognomie des Menschen

Konstitutionsforschung, Psychanalyse, differentielle Psychologie, Individualpsychologie, das sind die wissenschaftlichen Moden des Zeitalters, welche mangels originaler Tiefe und Sachkenntnis gar nicht bemerken, daß sie auf längst vorgebahnten Wegen weitergleiten. Denn wo gäbe es beispielsweise in den weitberühmten Schriften von Siegmund Freud nur einen einzigen Gedanken, der nicht längst von Herbart oder von Lipps strenger, schärfer, verantwortungsfähiger durchdacht worden wäre? Für die ganze medizinische und experimentale Seelenforschung gilt das Wort des Dichters: „In alle Seelen einzuschlüpfen gierig, blieb Deine eigne unbebaut und öd.“ Denn alle Mängel dieser Seelenforschung sammeln sich eigentlich nur in einem einzigen Mangel: Dem Mangel an Selbsterkenntnis, genauer gesagt: dem Ermangeln der erkenntniskritischen Prüfung schon vorausgesetzter Sinngebungen. Diese Pfuscherpsychologen arbeiten immer an Hand höchst allgemeiner und niemals ganz mangelnder Prinzipien. Ihre Prinzipien heißen Erotik, Libido, Geltungswille, Luststreben, Machtwille, Erfolgstreben, Lebenstrieb. Um diese Allgemeinheiten bauen sie deutende Ordnungen. Aber niemals fragen sie, ob denn diese zentrierenden Sinnordnungen nicht von der Analyse aus gestiftet werden. Die Befunde der Seelenforschung und die Ordnungsbegriffe, an Hand deren Etwas gefunden und erklärt wird —, dieses Beides vergessen sie zu scheiden. Und wenn die heute allverbreitete anekdotenvortragende Psychologie noch so viel erzählt von Ursachen und Akten im Seelischen, sie verfällt nie darauf, erst zu fragen, ob denn seelische Kausalität überhaupt möglich ist, ob unbewußte Vorgänge Ursachen haben können, oder was denn Zeitablauf im Vorbewußten eigentlich bedeute... Abseits von beiden Strömen — dem materialistisch-mechanischen und dem idealistisch-psychologischen

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