Die Physiognomie des Menschen
hüten. Aber indem wir die Gestaltenkunde betreuen (für die wissenschaftliche Grundlegung verweise ich auf meine Schrift „Prinzipien der Charakterologie“, erschienen in der Deutschen Psychologie, verlegt bei Karl Marhold in Halle/S.), möchten wir vorsorglich der Gefahr von Verwechselungen begegnen.
Gestaltenkunde ist die Wissenschaft vom Leben. Sie fordert wie alles Biotische eine natürliche, nicht verschulte Fähigkeit zu ästhetischem Betrachten. Aber sie endet dort, wo das Erspüren des unmittelbaren Lebens seine Grenze hat. Nämlich bei der Welt der Formen und der Normen. Beim Machen, Schaffen, Können einerseits. Beim Werten, Wollen, Urteilen andererseits. Alles dieses ist keine unmittelbare Lebenserscheinung, keine Gestalt. Sondern eine gewollte, gewußte, mittelbare Verwirklichung am Leben. Lebensaufdruck, nicht Lebensausdruck. Die Sphären der Idee und der Bewußtseinswirklichkeit sind dem Gestaltenforscher verboten, wofern er wirklich in der Sphäre des Lebendigen bleibt.
Die Verwechselung der drei Gebiete ist heute sehr verbreitet. Ein bedeutender Gestaltenforscher schrieb eine Abhandlung „Hand und Handschrift“, ohne auch nur zu merken, daß ein morphologisches Gebilde wie die Hand Naturgebilde ist, die Handschrift dagegen als ein Werkzeug der Kultur (Artefakt) bereits Ziel- und Leitungsbilder des Geistes (,Ideen“) voraussetzt. Graphologie also gehört auf eine andere Ebene als Chirognomik. Sie gehört nicht zu den Gestaltenwissenschaften, so wenig wie Stilkunde oder Tektonik, wie die Lehre von den Formen der Musik, von den Werkzeugen, den Maschinen oder überhaupt eine Wissenschaft von Gegenständen. Form ist durch Bewußtsein hindurchgegangene Gestalt. Und ebensowenig wie das ungeheure Reich der Formen (d. h. der bewußtseinswirklichen Gegenstände) gehört die Begriffswelt des Geistes in die
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