Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

wirklichen Zusammenhang. Eine solche Verwechslung auf Grund rein äußerlicher Ähnlichkeiten beging der Vater aller physiognomischen Wissenschaft, Aristoteles. Wenn ein Mensch die rauhe Behaarung eines Löwen hat, wird er auch mutig sein wie ein Löwe; wenn er schlichtes Haar hat wie das sanftwollige Schaf, wird er auch dessen sanftes Gemüt teilen.

Aber trotz so handgreiflicher Irrtümer konnte sich eine solche Lehre Jahrhunderte hindurch erhalten in Zeiten, die eben nicht gewohnt waren, ihr Denken an der Wirklichkeit zu überprüfen. Und so finden wir die aristotelische Idee im wesentlichen wieder in dem 1583 erschienenen Werk „Von der menschlichen Physiognomie“ des Giambattista della Porta. In den Holzschnitten stellt er Paare von je einem Tier- und einem Menschenkopf zusammen, die irgend eine beiläufige Ähnlichkeit der Grundform besitzen. Wir geben die Abbildung eines „Schafmenschen“ nach Porta nebenstehend wieder (Fig. 1).

Der Fehler dieser alten Physiognomiker war, daß sie nur die angeborene Körperform und auch von ihr nur die starre Oberfläche sahen, und nicht den Ausdruck, ähnlich wie dem unreifen Geschmack die schönen Bilder, und dem jungen Menschen die schönen Gesichter und nicht die ausdrucksvollsten am besten gefallen. So dürfen wir auch die Schönheitstrunkenheit der Antike auffassen. Nicht nur dem Aristoteles, der ganzen Antike bedeutete der Ausdruck weniger als die Form. Das Ziel griechischer Kunst war die reine Form des Körperlichen und der seelische Ausdruck durfte nur ein schönes Gesicht verschönen. Das Christentum suchte Seelenwelten jenseits der Körperwelt. Hatte die griechische Kunst die in ihrer reinen Idee aufgefaßte Natur dargestellt, so suchten die christlichen Künstler das Übernatürliche, das Geistige darzustellen, die Seele selbst; die aber

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