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DIE ERSCHÖPFTEN CLOWNS Helmut Schäfer Nur einen Vorschlag hätte Lopachin, der wohlhabende Sohn eines Leibeigenen, den Gutsbesitzern Ranewskaja und Gaev machen können: einen kleinen Zirkus mit lauter Clowns zu gründen. Unter seiner Leitung wohlgemerkt: sonst wäre das Ziel, den Kirschgarten und das Cut vor der Versteigerung zu retten, nach den ersten Vorstellungen schon vergessen worden. Vieler Proben der kleinen Kunststückchen hätte es nicht bedurft, nur der richtigen Kostüme und Masken. In einer beröhmt gewordenen Clownsszene aus den 30er Jahren berichtet der August von seinem großen Hunger: „Has Du Geld?” - fragt ihn daraufhin der weiße Clown. „Nein” - „Dann hast Du auch keinen Hunger”. Und das Publikum weiß sofort, daß der arme August nur zwei Möglichkeiten besitzen wird, seinen Hunger zu stillen: sich vorzustellen, daß ein üppiges Mahl seinen Hunger sättigt: also die Kunst der Einbildungskraft - oder ihn zu vergessen. Beides wird er versuchen, der Hunger aber bleibt. Den Kirschgarten bewahren, auch wenn er schon längst keinen Nutzen mehr trägt, ist der Wunsch der beiden Gutsbesitzer. Er, die ästhetisierte Vergangenheit, ruht in seiner kalten weißen Pracht wie die stille Natur, die ihr Verschwinden in der herauf-ziehenden Katastrophe erahnt. Ihr Schweigen köndet von großer Selbstvergessenheit - als wäre der Kirschgarten, in sich selbst verliebt, nur noch auf seine Schönheit aus. Dem Vorschlag Lopachins, das Haus abreißen zu lassen, den Kirschgarten abzuholzen, um das Land für Sommerfrischler nutzbar zu machen, begegnen die Gutsbesitzer darum mit Verständnislosigkeit. Ljubov Andrejevna: Abholzen? Verzeihen Sie, mein Bester, aber Sie haben keine Ahnung. Wenn es im ganzen Gouvernement etwas Interessantes, ja sogar Bemerkenswertes gibt, so ist das einzig und allein unser Kirschgarten. Lopachin; Bemerkenswert an dem Garten ist höchstens, daß er sehr groß ist. Die Bäume tragen nur jedes zweite Jahr, und dann weiß man nicht, wohin mit den Kirschen, weil keiner sie kauft.

Caev: Unser Kirschgarten wird sogar im Konversationslexikon erwähnt. Der Garten hat es weiter gebracht als seine Bewohner. Ihnen, die von Funktionen so frei sind wie er, bleibt die Ehre im Enzyklopädischen Wörterbuch vermerkt zu sein, verwehrt und all ihr kindlicher Narzißmus läßt sie auch nicht schöner werden. Die Gegenwart bedroht den, der an der Zukunft kein Interesse findet und verwandelt sie in ein komisches Trauerspiel. Clowneskem Humor eignet es, das Trauerspiel als Komödie aufzuführen. Die Menschen darin sind zerstreut und diese Zerstreutheit hilft dem Vergessen. Vergessen werden muß die Wirklichkeit, die für den Zerstreuten ohne Hoffnung ist. Hoffnung entsteht aus der Einsicht, daß die Welt nicht vollkommen ist: sie sehnt sich danach und verlegt eine vollkommene Welt in die Zukunft. So bleiben die Menschen an der Gegenwart interessiert und fallen nicht in die eigene Leere zurück, innerhalb derer sie sich zerstreuen müssen. „Clowns sind immer große Zerstreute, verträmte Geister, wenn sie verstört aus ihren winzigen Maulwurfsaugen blinzeln und über die Wirklichkeit stolpern, Sternegucker, denen das Leben schadenfroh ein Bein stellt.” (von Barloewen, Königstein 1981). Wie ein lästiger Cast erscheinen Gegenwart und Zukunft den konkursreifen Herren des Kirschgartens. Vergangenheit wird nur beschworen, um als verlorene Utopie der Gegenwart beizuspringen und sie in die Schönheit der Erinnerung zu tauchen. Das Leben war erfüllt, wie sich der alte Dienner des Hauses erinnert. Firs: Und die getrockneten Kirschen, die waren damals weich und saftig und süß, und einen Duft hatten sie... Damals, da kannte man noch das Rezept... Doch Tschechows Menschen unterscheiden sich von denen, die einzig das Vergangene beschwören: Ljubov Andrejevna: Wo ist denn das Rezept geblieben?