Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.
18 _____— Nlippen des Glüds.
Sobald Frau v. Oſternau von ihrer Krankheit ſoweit hergeſtellt war, um reiſen zu können, etwa vierzehn Tage nach dem Cintreſſen des neuen Majoratsherrn, verließ ſie das Dorf, um ihren Wohnſiß in der Hauptſtadt aufzu=. ſ<lagen. Sie hat während dieſer vierzehn Lage den Hern v. Oſternau nicht geſehen, ein perſönliches Zuſammentreffen = mit demſelben wäre ihr zu peinlich geweſen; mix jvurde die Aufgabe, die wegen Auszahlung der Rente und anderer unbedeutender geſchäftlicher Beziehungen noh nothwendigen Verhandlungen zu vermitteln. An demſelben Tage, an welchem Frau v. Oſternau mit Fräulein Lieëchen abreiste, verließ auh ih den Ort, an welchem ih ſo viele glüdliche Jahre verlebt hatte.
Hexr v. Oſternau hatte mix ſehr glänzende Anerbie= tungen gemacht, wenn ih als Oberinſpektor bei ihm bleiben wolle, aber ih konnte es nicht über mi<h gewinnen, fein Untergebener zu fein. Der Verdacht, den ich gegen ihn im Herzen hatte, ließ ſi<h niht bannen. Für mich war er der Dieb und Brandſtifter, ihm hätte ih niht mit dex Freudigkeit dienen können, deren ih bedarf, um eas zu leiſten. J< nahm auf einem anderen Gute eine viel we= niger reich dotixte Jnſpektorſtelle an.
Mit Frau v. Oſternau bin ih in einem anfangs ſehr regen, ſpäter allerdings oft unterbrochenen , aber niemals ganz abgebrochenen Briefwechſel geblieben, fo daß ih ver= mocht habe, ihr ferneres Leben zu verfolgen.
Sie hat in Berlin ſ{hwere, kummervolle, an Noth und Entbehrungen reiche Jahre verlebt. Zu ſtolz, um von ihren Verwandten irgend eine Unterſtüßung anzunehmen,