Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3
Gemſe: Nahrung. Feinde. Jagdweiſen. | 411
Jäger aber wiſſen nur zu gut, daß ein ſtrenger Winter innerhalb nicht allzu ausgedehnter Gebiete oft Dußenden und ſelbſt Hunderten von ihnen das Leben raubt.
Nicht nux Mangel bringt der Winter mit ſih, er bedroht die Gemſen auh no< dur< Schneelawinen, welche zuweilen ganze Geſellſchaften von ihnen begraben. Die Tiere kennen zwar dieſe Gefahr und ſuchen Stellen auf, wo ſie am ſicherſten ſind; das Verderben aber ereilt ſie doh. Auch herabrollende Steine und Felſenblö>e erſhlagen gar manche von ihnen; Krankheiten und Seuchen räumen ebenfalls unter ihnen auf, und eine Reihe von Feinden, namentli<h Lus, Wolf und Bär, Adler und Bart- oder Lämmergeier, ſind ihnen beſtändig auf der Ferſe. Luchſe lauern ihnen im Winter in den Wäldern auf und richten oft große Verheerungen unter ihnen an; Wölfe folgen ihnen namentlih bei tiefem Schnee nach, und Bären beängſtigen ſie wenigſtens in hohem Grade. Jm Engadin ſoll es geſchehen ſein, daß ein Bär einer Gemſe bis in das Dorf nathlief, in welchem ſie ſih in einen Holzſhuppen rettete. Adler und Bartgeier gefährden ſie niht minder, da ſie ſh wie ein Bliß aus heiterem Himmel auf ſie herniederſtürzen, junge Kißchen ohne weiteres vom Boden aufnehmen und ältere troß deren Abwehr in den Abgrund zu ſtoßen ſuchen. Zu dieſen in den gehegten Gebieten glü>licherweiſe faſt ausgerotteten Verfolgern geſellt ſi als ſ{limmſter Feind der Menſch überall da, wo nicht beſtimmte Jagdgeſebe oder Jagdgebräuche eine geregelte Schonung dieſes edlen Wildes erſtreben und gewährleiſten. Der ungezügelte Sohn der freien Berge fragt freilih no< heutigestags wenig nach ſolhen Geſegen, und deshalb ſind die Gemsbeſtände au< allerorten, wo jedermann jagen darf, auf wenige Stüce beſhränkt, während ſie, wie wir geſehen haben, unter geordneter Pflege in erfreulicher Weiſe ſi< vermehren.
Von jeher galt die Gemsjagd als ein Vergnügen, würdig des beſten Mannes. Maximilian, der große Kaiſer Deutſchlands, ſtieg mit Luſt zu den gewandten Alpenkindern empor, lletterte ihnen ſelbſt nah in Höhen, wo es, wie die Sage berihtet, eines Wunders bedurſte, um ihn wieder herab in die menſchenfreundliche Tiefe zu führen. Nach ihm gab es wenige deutſche Fürſten, welche die Gemſenjagd mit gleicher Leidenſchaft betrieben. Dann übten ſie die Erzbiſchöfe aus und erließen Geſeße zur Hegung und Pflege des bereits ſeltener werdenden Wildes. Zur Zeit des Bezoar-Aberglaubens wurde ihm unbarmherzig nachgeſtellt. Dann trat gewiſſermaßen ein Stillſtand von faſt 100 Jahren ein. Unter den Großen der Erde griff erſt der Erzherzog Fohann von Öſterrei wieder zur Büchſe; ihm folgten die Könige Bayerns und einige der deutſchen Herzöge. Gegenwärtig iſt die Jagd ein ſürſtlihes Vergnügen geworden. Die gemſenreihſten Gebiete befinden ſich im Beſie des Kaiſers von Öſterreich, des Königs von Bayern, verſchiedener Erzherzöge des kaiſerlichen Hauſes und reicher Edlen des öſterreichiſh-ungariſchen Kaiſerſtaates, werden dur tüchtige, meiſt inmitten der Reviere lebende Jäger überwacht und gewähren deshalb alljährlich ebenſo anziehende wie lohnende Jagden.
„Über das Jagen der Gemſen“, ſagt Franz von Kobell, „iſt gar viel geſchrieben worden, und manchmal hat einer, welcher faum ein paar Jagden geſehen, die Feder ergriffen und je na< Stimmung und Erlebniſſen dieſe Jagd zur gefährlichſten aller gemacht oder ſie au< wieder in der Weiſe dargeſtellt, als wäre ſie niht viel mehr als ein Treiben auf Haſen und Rehe. Daß dieſe Jagd romantiſcher iſt als die meiſten anderen, liegt in der Natur des Gebietes, auf dem ſie ſi< bewegt; was aber die Gefahren des Jägers betrifft, jo fommt es auf die Art und Weiſe des Jagens und auf die Verhältniſſe an, unter denen man jagt. Wer viele Gemsbirſchen gemacht hat, wird ſhwerlih den Gefühlen inneren Grauſens entgangen ſein, wenn er über eine Wand oder dur eine Schlucht ſtieg und plößlih über ihm ein Steingerumpel von flüchtigen Gemſen losging und kaum der Vorſprung eines Felſens den Leib zu de>en vermochte, oder wenn er, einer angeſchoſſenen Gemſe