Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3
410 Elfte Ordnung: Paarzeher; dritte Familie: Horntiere.
Mehrfach haben Jäger beobachtet, daß junge Gemſen zu ihren erlegten Müttern zurükehrten und klagend bei ihnen ſtehen blieben; ja, es ſind Beiſpiele bekannt, daß ſolche Tiere, obgleich ſie ihre Scheu vor dem Menſchen dur< einen dumpfen, blökenden Laut deutli zu erxtennen gaben, von der Leiche ihrer Mutter ſih wegnehmen ließen. Verwaiſte Kißchen ſollen von Pflegemüttern angenommen und vollends erzogen werden. Der Bo bekümmert ſi niht im geringſten um ſeine Nahkommenſchaſt, behandelt jedo<h junge Gemſen, ſolange bei ihm die Erregung während der Brunſt nicht ins Spiel kommt, wenigſtens niht unwirſ{, erfreut ſih trot ſeines Ernſtes vielleicht ſogar an ihrem luſtigen und heiteren Weſen. Die Kißchen wachſen ungemein raſch heran, erhalten ſ{<on im 3. Monate ihres Lebens Hörner und haben im 83. Fahre faſt die volle Größe der Alten erlangt, ſind mindeſtens zur Fortpflanzung geeignet. Das Alter, welches ſie erreichen, ſ{häßgt man auf 20—25 Jahre, ob mit Recht oder mit Unrecht, läßt ſi< kaum beſtimmen.
Zumweilen geſchieht es, daß ein Gemsbo> ſih unter die auf den Alpen weidenden Ziegen miſcht, die Zuneigung der einen oder der anderen Geiß gewinnt und ſi<h mit ihr paart. Wiederholt und noch in der Neuzeit hat man auch von Erzeugniſſen derartiger Liebesverhältniſſe, alſo von zweifelloſen Gemſen- und Ziegenblendlingen, geſprochen. Für unmöglich halte ih eine fruhtbare Vermiſhung von Gemſe und Ziege zwar niht, meine jedo<, daß derartige Angaben, ſolange niht unzweifelhafte, jede Täuſchung aus\{ließende Beobachtungen vorliegen, immer mit dem entſchiedenſten Mißtrauen aufgenommen werden müſſen.
Ungeachtet mancherlei Gefahren vermehren ſich die Gemſen da, wo ſie gehegt und nur in vernünftiger Weiſe beſchoſſen werden, außerordentli< raſch; denn ſie ſind, wie der erfahrene von Kobell ſagt, das einzige Wild, welches von harten Wintern verhältni8mäßig wenig leidet. Auf den ſteilen Gehängen, von denen der Schnee meiſt weggeweht wird, oder unter den Felſen und Schirmbäumen, welche ihn etwas abhalten, finden ſie noh immer ung, während Hirſche und Rehe zu Thale getrieben werden und ohne künſilihe Fütterung häufig erliegen. Dieſe Vermehrung hat jedo<, wie Kobell hervorhebt, ihre Grenze, înſofern ſie von der Örtlichkeit bedingt iſt. Denn eine gewiſſe Anzahl Gemſen verlangt, wie jedes Wild, einen Standort von einer beſtimmten Größe, und wenn ihrer zu viele werden, ſo verläßt der Überſhuß den Plaß und wechſelt nah anderen Bergen.
Während des Sommers äſt die Gemſe von den beſten, ſaftigſten und le>erſten Alpenpflanzen, insbeſondere von denen, welhe nahe der S<hneegrenze wachſen, außerdem von jungen Trieben und Schößlingen der Sträucher jener Höhen, vom Alpenröschen an bis zu den Sproſſen der Nadelbäume; im Spätherbſte und Winter dagegen müſſen ihr das lange Gras, welches aus dem S<hnee hervorragt, ſowie allerlei Mooſe und Flechten genügen. Salz ſcheint ihr, wie den meiſten anderen Wiederkäuern, unentbehrlich zu ſein; Waſſer zum Trinfen dagegen bedarf ſie niht und ſtillt wahrſcheinli<h ihren Durſt dur< Bele>en der taunaſſen Blätter zur vollſtändigen Genüge. Sie iſt le>er, wenn ſie es ſein kann, und anſpruchslos, wenn ſie es ſein muß, nimmt bei guter Äſung raſh an Feiſt und demgemäß beträchtlih an Umfang und Gewicht zu, magert aber auch bei dürftiger Äſung ſehr bald wieder ab. Wenn tiefer Schnee den Boden de>t, hat auch ſie oft Not, um ihr Leben zu friſten; denn ſelbſt in den niederen Waldungen findet ſie niht immer genügende Nahrung, obgleich ſie unter allen Umſtänden tage- und wochenlang nur von den langen, bartartigen Flechten äſt, welche von den unteren Äſten herabhängen. Um die Heuſchober, welhe man in einzelnen Alpengegenden im Freien aufſtapelt, ſammeln ſi< man<hmal Rudel von Gemſen und freſſen nah und nach ſo tiefe Löcher in die Schober, daß ſie ſich im Heue gleich gegen die Stürme deen können; auf anderen Örtlichkeiten dagegen, wo ſie ſolhe Heuſchober nit kennen, nimmt ſie ſelbſt im ſtrengſten Winter kein Futter an, und leidet und kümmert. Tſchudi hält es für unwahrſcheinlih, daß Gemſen im Winter verhungern; erfahrene