Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Gemſe: Jagdweiſen. Volks3glauben. Zähmbarkeit. 413

„Jn betreff der Entfernung, beſonders über einen Graben hinüber, kann man ſih ſehr täuſchen, und manche Gemſe wird deshalb gefehlt. Als Regel gilt, daß es zum Schießen zu weit iſt, wenn man die Kri>eln niht mehr ſieht. Der beſte Schuß iſt freilih ein Blatt\<uß; es kommen aber oft Weidwundſchüſſe vor. Eine ſo angeſchoſſene Gemſe thut ſih bald nieder; wird ſie aber angegangen oder der Hund darauf gelaſſen, ſo geht ſie fort und ſteigt meiſtens in eine Wand ein, wo der Hund nicht folgen kann; dann birſht man ſih an und ſchießt ſie von der Wand herunter. Jm ſchärferen Gebirge kann man wegen des Abfallens keinen Hund gebrauchen, doh findet man hier gewöhnlih die Rotfährte leicht auf den grauen Steinen. Zuweilen iſt es aber für den Jäger unmöglich, auf den Plat vorzudringen, wo die Gemſe verendete, und ſie muß verlaſſen werden und geht verloren.“

Das Wildbret der Gemſe darf ſi<h an Wohlgeſhma> mit jedem anderen meſſen, übertrifſt meiner Anſicht nach ſogar das unſeres Rehes, welches bekanntlich als das zarteſte und ſ<machafteſte der einheimiſchen Wildarten gilt, noh bei weitem, da es ſih dur einen würzigen, mit nichts zu vergleihenden Beigeſhma> auszeihnet. Nur während der Paarungszeit ſoll es etwas bodig {<me>en und an Ziegenfleiſh erinnern, wel<h leßteres, nachdem es eine beſondere Beize durhgemacht hat, von den betriebſamen und erfindungsreichen Schweizer Gaſtwirten durhreiſenden Fremden ſehr oft als Gemsbraten aufgetiſcht wird. Faſt ebenſo wertvoll wie das Wildbret iſt die Dede, welche man zu vorzüglichem Wildleder verarbeitet. Auch die Hörner finden mancherlei Verwendung; die Haare längs des Rükenfirſtes endlih dienen als Hutſhmu> ebenſowohl der zünftigen Jäger wie der jagdluſtigen Sonntagsſchügzen.

Die Gemſe ſpielt in der Volksdichtung unſerer Alpenbewohner genau dieſelbe Rolle, welche der Gazelle dur<h die Morgenländer zugeſprochen wurde. Hunderte von Liedern ſchildern ſie und ihre Jagd in ebenſo treffender wie anmutender Weiſe; mancherlei Sagen umranken ihre Naturgeſchichte, ſoweit dieſe dem Volke zum Bewußtſein gekommen iſt. Ein allgemein verbreiteter Aberglaube beſtimmt den Jäger, das Herz des aufgebro<henen Wildes zu öffnen und das hier noch ſi findende Blut zu trinken, in der Zuverſicht, dadur<h Musfeln und Sinne zu ſtählen und den gefürchteten Schwindel zu vertreiben; ein anderer Volksglaube ſ{hüßt eine weiße Gemſe vor dem tödlichen Blei, weil derjenige, welcher eine jolche erlegte, ſein Leben ſtets durch einen Sturz in die Tiefe enden ſoll. Die Begriffe von Recht und Unrecht verwirren ſih ſelbſt in den klarſten Köpfen der ehrlichſten Gebirgsleute, wenn es ſih um die Gemſe handelt, und der Sohn der Alpen ſieht in ihr noh heutigestags das ihm gehörende Eigentum, das Wild, welches er jagt, wo es auch ſei.

Jung eingefangene Gemſen laſſen ſi< zähmen. Man ernährt ſie mit Ziegenmilch, mit ſaftigem Graſe und Kräutern, mit Kohl, Rüben unb Brot. Wenn man gutartige Ziegen hat, kann man dieſen das Pſlegeelterngeſhäft anvertrauen. Dabei gedeihen die kleinen, heiteren GebirgSfinder nur um ſo beſſer. Luſtig ſpielen ſie mit dem Zi>lein, ke> und munter mit dem Hunde; traulih folgen ſie dem Pfleger, freundlich kommen ſie herbei, um ſich Nahrung zu erbitten. Jhr Sinn ſtrebt immer nah dem Höchſten. Steinblöe in ihrem Hofe, Mauerabſäße und andere Erhöhungen werden ein Lieblingsort für ſie. Dort ſtehen ſie oft ſtundenlang. Sie werden zwar nie ſo kräftig wie die freilebenden Gemſen, ſcheinen ſich aber ganz wohl in der Gefangenſchaft zu befinden. Bei manchen bricht im Alter auch eine gewiſſe Wildheit dur; dann gebrauchen ſie ihre Hörnchen oft re<ht nahdrüd>lih. Zhre Genügſamkeit erleichtert ihnen die Gefangenſchaft. Jm Alter zeigen ſie ſih noch weniger wähleriſch hinſichtlih ihrer Nahrung als in der Jugend. Abgehärtet ſind ſie vom Mutterleibe an. Jm Winter genügt ihnen ein wenig Streu unter einem öffenen Däthlein. Sperrt man ſie in einen Stall, ſo behagt es ihnen hier niht; einen Raum zur Bewegung und friſches Waſſer müſſen ſie unbedingt haben. Alt eingefangene bleiben immer furhtſam und ſcheu.