Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Reh: Aufenthalt. Bewegungen. Weſen. 497

wittert und äugt vortrefflich, iſt liſtig, vorſichtig, aber auch wieder re<t vertraut. „Freundlihfeit, Zuthulichteit“, ſagt Dietrih aus dem Win>ell, „ſpricht aus jedem ſeiner Blicke/ und doch läßt es nur, von der zarteſten Jugend an von dem Menſchen künſtlih erzogen, ſi zähmen; im entgegengeſeßten Falle behält es ſelbſt bei der beſten Pflege die im wilden Zuſtande eigene Schüchternheit und Furcht vor Menſchen und Tieren bei. Dieſe geht ſo weit, daß es, wenn es überraſcht wird, niht nur zuweilen einen kurzen Laut des Schre>ens von ſi gibt, ſondern au< den Verſuch, ſih dur< die Flucht zu retten, oft aufgeben muß, indem es leiht völlig aus dem Sprunge kommt und dann, auf einem engen Raume ſi ängſtlich gleichſam herumtummelnd, nicht ſelten ein Opfer gemeiner, gar niht raſcher Bauernhunde, vorzüglih aber der Raubtiere wird. Nux in Gehegen, wo die Rehe ſehr wenig beſchoſſen werden und immer Ruhe haben, legen ſie ihre Scheu vor dem Menſchen inſoweit ab, daß ſie, wenn ex in einer Entfernung von 20—30 Schritt an ihnen vorübergeht, ſi im Äſen night ſtören laſſen. Jm Bette wird keine andre Wildart häufiger überraſcht als das Reh; wahrſcheinli<h muß es ſchlafen oder, wenn es ſih wachend niedergethan hat, um das Geſchäft des Wiederkäuens zu verrichten, unter einem di>en Strauche oder in hohem Graſe vor den ſpähenden Blicken ſeiner Verfolger ih hinlänglich geſichert glauben.“

Von der „Freundlichkeit und Zuthulichkeit“, welche Win>ell rühmend hervorhebt, nimmt man bei innigerem Umgange mit dem Rehe meiſtens wohl herzlih wenig wahr. Solange es jung iſt, zeigt es ſi allerdings höchſt liebenswürdig, im Alter aber ſehr eigenwillig, troßbig und bösartig. Schon die alte Ricke hat ihre Muen, jedoch zu wenig Kraft, um ihren Abſichten den erwünſchten Ausdru> und Nachdru> zu geben; der Bot aber iſt ein unverträglicher, boShafter, ſelbſt- und herrſ<hſühtiger Geſell, behandelt ſchwächere ſeiner Art ſtets, die Ricke nicht ſelten ganz abſcheulih, mißhandelt ohne Erbarmen ſeine Sprößlinge, ſobald er meint, daß ſie ſeinen Gelüſten im Wege ſtehen könnten, zeigt allen Geſchöpfen, welche er niht für<ten muß oder aus Gewohnheit niht mehr fürchtet, das Gehörn und gebraucht es in höchſt gefährliher Weiſe. Zu trauen iſt ihm nie; denn ſein Sinn iſt im höchſten Grade unbeſtändig und wetterwendiſh, ſeine Reizbarkeit unglaublich groß und ſeine ſtörriſche Beharrlichkeit nicht zu unterſchäßen. Wirkliche Anhänglichkeit, hingebende Aufopferung rennt ex niht; bei Gefahr iſt er der exſte, welcher ſih nicht ohne bemerkenswerte Liſt und Verſchlagenheit davon zu machen ſut; Verteidigung der Rice und ſeines Sprößlings kommt ihm niht in den Sinn. Ex hält ſi< niht immer, aber oft zu beiden, jedo<h kaum aus warmer Zuneigung, ſondern wohl hauptſächlich aus Liebe zur Geſelligkeit und Bequemlichkeit, da er weiß, daß die vorſichtige Ricke unabläſſig um die Sicherheit ihres Kälbchens beſorgt iſt, und er ſi dies zu nuße zu machen ſucht. Selbſt während der Brunſtzeit betundet er der Ricke gegenüber eigentlich weder Liebe noh Zärtlichkeit ſondern nur Begierde. Vollendete Selbſtſucht iſt der Grundzug ſeines Weſens.

Niemals bildet das Reh ſo ſtarke Trupps wie das Edelwild. Während des größten Teiles des Jahres lebt es familienweiſe zuſammen, ein Bo mit einer, ſeltener mit 2—8 Ricken Und deren Jungen; nur da, wo es an Böcken fehlt, gewahrt man Trupps von 1215 Stück. Der Bo> trennt ſich wahrſcheinlih bloß dann von der Familie, wenn jüngere ſeine Stelle vertreten und er es für gut befindet, ſih grollend in die Einſamkeit zurück: zuziehen. Dies geſchieht hauptſählih im Frühſommer, währt aber nie länger als bis zur Brunſtzeit; dann trollk er unruhig umher, um Schmalrehe aufzuſuchen. Nach der Blattzeit bleibt er meiſtens beim Schmalrehe; wenn die nunmehrige Rice aber beſchlagen iſt, ſucht er ſih eine andere, und dieſe bleibt bis zum nächſten Frühlinge ſeine bevorzugte Gefährtin. Im Winter vereinigen ſih zuweilen mehrere Familien und leben längere Zeit miteinander. Die Kälber halten ſi bis zur nächſten Brunſtzeit zu den Rehen, werden dann von dieſen abgeſchlagen und bilden oft eigene Trupps für ſih. Während des Tages hält ſi<h das Reh | 2

Brehm- Tierleben. 83, Auflage. II, 3