Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

498 Elfte Ordnung: Paarzeher; fünfte Familie: Hirſche.

in einem ruhigen, De>ung bietenden Teile des zeitweiligen Wohngebietes auf, gegen Abend, in ruhigen Gegenden bereits in den ſpäteren Nahmittagsſtunden, tritt es auf junge Schläge, Wald- und Flurwieſen oder Felder heraus, um zu äſen; gegen Morgen begibt es ſih wieder nah dem Dickicht oder ins hohe Getreide zurü>, ſ<hlägt mit den Vorderläufen die Moos- oder Raſende>e weg und bereitet ſih ſo ſein Bett oder Lager, um hier zu ruhen. Einen beſtimmten Wechſel hält es gern, obſchon niht ganz regelmäßig ein.

Die Äſung iſt faſt dieſelbe, welche das Edelwild genießt; nur wählt das le>ere Reh mehr die zarteren Pflanzen aus. Blätter und junge Schößlinge der verſchiedenſten Laubbäume, Nadelholzknoſpen, grünes Getreide, Kräuter bilden wohl die Hauptbeſtandteile der Äſung. Bei uns zu Lande ernährt es ſi< von den Blättern und jungen Trieben der Eiche, Ulme, Birke, Eſpe, des Hornbaumes, Spißahornes ſowie der Nadelhölzer, insbeſondere der Fichte, von jung aufſchießendem Raps, Weizen, Roggen, Gerſte, Hafer, Erbſen, Kraut und Klee, allerlei Gräſern, au< Eicheln und anderen Baumfrüchten, in Sibirien außer dieſen und ähnlichen Pflanzenarten auch von den Trieben der Wermutarten, Potentillen 2c. Salz le>t es ſehr gern, und reines Waſſer iſt ihm Bedürfnis; es begnügt ſi< aber bei Regen oder ſtarkem Taufalle mit den Tropfen, welche auf den Blättern liegen. Hier und da kommt es zuweilen auh wohl in die Gärten herein, deren le>ere Gemüſe ihm behagen, und ſeßt dabei kühn und geſchi>t über ziemlih hohe Zäune weg. Vom Hirſche unterſcheidet es ſich dadur, daß es die Kartoffeln niht ausſcharrt und in den Feldern nicht ſoviel Getreide dur Niederthun umlegt; dagegen verbeißt es in Forſten und Gärten die jungen Väume oft in \{limmer Weiſe und wird dann empfindlih ſ{hädli<.

Merkwürdigerweiſe iſt erſt in neuerer Zeit die Fortpflanzungsgeſchichte des Rehes feſt geſtellt worden. Lange Jahre hat man ſi hin und her geſtritten, wann eigentlich die Brunftzeit des Rehes eintrete. Man wollte eine wahre und eine falſche Brunft unterſcheiden, erſtere ſollte im Auguſt, leßtere im November ſtattfinden.

Die Fortpflanzungsgeſchichte des Rehes iſt kurz folgende. Nachdem das im Oktober oder November abgeworfene Geweih des älteren Boes \ſih neu gebildet und vere>t, der BoW auh gefegt hat, was zu Ende März, ſpäteſtens im April zu geſchehen pflegt, zeigt ſich der Bo> zwar niht mehr ſo harmlos wie während der Zeit ſeiner Waffenloſigkeit, aber Do au< noh nict erregt, ſondern benimmt ſi eher als erträglicher Genoſſe der Ride und zuweilen ſelbſt als teilnehmender Vater ſeiner oder anderer Böke Sprößlinge. Mitte Juli endet dieſes ſhöne Verhältnis. Unruhe, Rauf- und Kampfluſt machen ſih geltend; der ſtarke Bo> trennt ſi<h unter allen Umſtänden von den bisherigen Genoſſen, [{<hweift weit umher, tritt anderen Vöcken herausfordernd entgegen, läßt öfters ſeine Stimme, ein dumpfes, kurz ausgeſtoßenes „Bäö, bäö“ oder „Bö, bö, bô“, vernehmen und beginnt junge, zwar [ehr verliebte, aber züchtige Ri>en zu treiben, d. h. hißig hin und her zu jagen. Seine Erregung ſteigert ſi< von Tag zu Tage; er bekämpft mit oft ſinnloſer Wut ſeine Nebenbuhler, bindet ſelbſt mit anderen Geſchöpfen, in ſeltenen Fällen ſogar mit dem Menſchen an, mißhandelt, ja tötet die Kälber, falls deren Vorhandenſein ihm hinderlih zu ſein ſcheint, und behandelt auch die Ricken, welche ſih ſeinen Wünſchen nicht ſofort fügen wollen, mit ebenſoviel Ungeſtüm als Nückſichtsloſigkeit. Seine Ciferſuht und Raufluſt geht fo weit, daß er die begehrte Schöne meiſt ob des Nebenbuhlers hintanſeßt, indem er auf Böke, welche gleich ihm eine Rie treiben, wütend und kampfeifrig losſtürzt, ohne ſi um die Geiß weiter zu bekümmern. Dieſe iſ faſt ebenſo erregt wie er, gibt ihren Gefühlen auh entſprehenden Ausdru>, indem ſie den Bok dur einen „fipenden“ Laut, welcher wie „I, tl, tè, lè, 1, 1“ lingt, auf ſi< aufmerkſam macht und zu ſich einladet. Auf dieſes Zeichen hin eilt der junge Bo hizig und unbedacht, der ältere vorſichtiger, der alte erfahrene ſchleichend wie ein Fuchs herbei, um der Minne Sold zu fordern. Die alte Ni>e gewährt leßteren meiſt ohne