Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Zwölfte Ordnung. Die Sirenen (Sirenia).

Wer bei den Sirenen der Tierkundigen an jene Märchengeſtalten des Altertums denten wollte, welche, halb Weib, halb Fiſch, die kryſtallenen Wogen des Meeres bewohnen und den armen Erdenſohn dur< wunderbaren Geſang und noh wunderbarere Gebärden, dur< Neigen des Hauptes und glühende Bli>ke der Augen einladen, zu ihnen hinabzuſteigen, mit ihnen zu ſpielen, zu koſen und — zu verderben, würde ſi irren. Die Naturforſcher haben in dieſem Falle einzig und allein ihre Vorliebe für dichteriſhe Namen bewieſen, ohne der Dichtung ſelbſt gere<t geworden zu ſein. Der Name Sirenen paßt auf die zu ſchildernden Meerbewohner ungefähr ebenſogut wie der jener griechiſchen Baumnymphe Hamadryas auf einen der ſonderbarſten und wahrlih nur im Auge eines Naturforſchers ſ{hönen Affen.

Die Sirenen oder Seckühe bilden eine eigene Ordnung. Jn ihrem inneren Baue ſtimmen ſie am meiſten mit den Huftieren überein und können als ein Zweig dieſer angeſehen werden, der ſi< dem Leben im Waſſer angepaßt hat. Viele Naturforſcher zählten ſie den Walen als beſondere Abteilung oder Familie zu; die Unterſchiede zwiſchen ihnen und dieſen ſind aber jo groß, daß fi<h eine Sonderſtellung wohl rehtfertigt. Fhre Merkmale liegen in dem kleinen, deutlih vom Rumpfe abgeſetzten Kopfe mit dicwulſtiger Shnauze, borſtigen Lippen und an der Schnauzenſpiße mündenden Naſenlöchern , dem plumpen, eigentümlich gegliederten, ſpärlich mit kurzen, borſtenartigen Haaren bekleideten Leibe und dem ihnen eigentümlichen Gebiſſe. Bloß zwei und zwar die vorderen Gliedmaßen ſind noch vorhanden, aber bereits zu eten Floſſenheinen geworden. Die allgemeine Körperhaut umhüllt deren Zehen ſo vollſtändig, daß alle Beweglichkeit der einzelnen Glieder aufgehoben wird. Nur Spuren von Nägeln, welche ſi finden, deuten auh äußerlih noh auf die innere Trennung der Hand. Der Shwanz, welcher zugleich die Hinterglieder vertritt, endet in eine Finne. Es gehört lebhafte Einbildungsfkraft dazu, in dieſen Tieren, ſelbſt wenn ſie auc in weiter Ferne ſih zeigen ſollten, Seejungfrauen zu erbli>ten: mit dem ſhönen Leib des Menſchenweibes haben die plumpen, ungeſhla<ten Tiere bloß inſofern etwas gemein, als die Zißen auch bei ihnen an der Bruſt (zwiſchen den Vorderfloſſen) liegen und na<h Art von Brüſten mehr als bei anderen Seeſäugern hervortreten.

Unſere Ordnung beſit nur eine Familie (Manatidae), die in drei Gattungen zerfällt von denen die eine, gebildet dur die eigentliche Seekuh oder das Borkentier, freilich niht mehr unter den lebenden aufgeführt werden darf. Die Gattungen unterſcheiden ſih durch das Gebiß fo weſentlich, daß es unthunlich erſcheint, dasſelbe ſhon an dieſer Stelle abzuhandeln. Während das Borkentier anſtatt der Zähne nur eine hornarxtige Kauplatte an der Innenſeite des Unterkiefers und am Gaumen beſaß, haben die übrigen Sirenen bezahnte