Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

Raubwürger. Grauwürger. 489

einzelner Stimmen und Töne der in einem gewiſſen Gebiete wohnenden kleineren Singvögel. Dieſer zuſammengeſeßte Geſang wird niht bloß vom Männchen, ſondern au< vom Weibchen vorgetragen. Zuweilen vernimmt man eine hell quiekende Stimme, wie ſie von éleinen Vögeln zu hören iſt, wenn ſie in großer Géfahr ſind. Der Würger ſißt dabei ganz ruhig, und es ſcheint faſt, als wollte er dur< ſein Klagegeſchrei neugierige Vögel herbeirufen, möglicherweiſe, um ſi< aus ihrer Schar Beute zu gewinnen.

Jm April ſchreitet das Paar zur Fortpflanzung. Es erwählt ſi< in Vor- oder Feldhölzern, in einem Garten oder Gebüſche einen geeigneten Baum, am liebſten einen Weißdornbuſch oder einen wilden Obſtbaum, und trägt ſih hier tro>ene Halmſtengel, Reiſerchen, Erd- und Baummoos zu einem ziemlich kunſtreichen, verhältnismäßig großen Neſte zuſammen, deſſen halbkugelige Mulde mit Stroh und Grashalmen, Wolle und Haaren dicht ausgefüttert iſt. Das Gelege beſteht aus 4—7 Eiern, die 28 mm lang, 20 mm di>, auf grünlihgrauem Grunde ölbraun und aſchgrau gefle>t ſind und 15 Tage lang bebrütet werden. - Zu Anfang Mai ſchlüpfen die Jungen aus, und beide Eltern ſ{<leppen ihnen nun Käfer, Heuſchre>en und andere Kerbtiere, ſpäter kleine Vögel und Mäuſe in Menge herbei, verteidigen ſie mit Gefahr ihres Lebens, legen, wenn ſie bedroht werden, alle Furcht ab, füttern ſie auh na< dem Ausfliegen noh lange Zeit und leiten ſie no< im Spätherbſte. Mein Vater hat beobachtet, wie vorſichtig und klug ſih alte Würger benehmen, wenn ſie ihre no< unerfahrenen Fungen bedroht ſehen. „Jn einem Laubholze“, erzählt ex, „verfolgte ih eine Familie dieſer Vögel, um einige zu ſchießen. Dies glü>te aber durhaus niht; denn die Alten warnten die Fungen durch heſtiges Geſchrei jedesmal, wenn ih mi<h ihnen näherte. Endlich gelang es mir, mi<h an ein Junges anzuſchleichen: als ih aber das Gewehr anlegte, ſchrie das Weibchen laut auf, und weil das Junge nicht folgte, ſtieß es dieſes, noh che ih ſchießen konnte, im Fluge mit Gewalt vom Aſte herab.“ Dieſelbe Beobachtung iſt viele Fahre ſpäter no< einmal von meinem Vater, inzwiſhen aber auh von anderen Forſchern gemaht worden.

Habicht und Sperber, grauſam wie der Würger ſelbſt, ſind die ſ{<hlimmſten Feinde unſeres Vogels. Er kennt ſie wohl und nimmt ſi<h mögli<hſt vor ihnen in acht, kann es aber do<h niht immer unterlaſſen, ſeinen Mutwillen an ihnen auszuüben, und wird bei dieſer Gelegenheit die Beute der ſtärkeren Räuber. Außerdem plagen ihn Schmaroßer verſchiedener Art. Der Menſch bemächtigt ſih ſeiner mit Leichtigkeit nur vor der Krähenhütte und auf dem Vogelherde. Da, wo es auf weithin keine Bäume gibt, kann man ihn leicht fangen, wenn man auf eine mittelhohe Stange einen mit Leimruten beſpi>ten Buſch pflanzt, und ebenſo bekommt man ihn in ſeine Gewalt, wenn man ſeine beliebteſten Sißpläße erfundet und hier Leimruten geſchi>t anbringt.

Jn der Gefangenſchaft wird der Naubwürger bald zahm, lernt ſeinen Gebieter genau fennen, begrüßt ihn mit freudigem Rufe, trägt ſeine drolligen Lieder mit ziemlicher Ausdauer vor, dauert aber nicht ſo gut aus wie ſeine Verwandten. Früher ſoll er zur Beize abgerichtet worden ſein; häufiger aber no< wurde er beim Fange der Falken gebraucht.

Alle ebenen Gegenden unſeres Va:erlandes, in denen der Laubwald vorherrſcht, beherbergen den Grauwürger, Roſen- und Shwarzſtirnwürger, Schäferdickkopf, Sommerkrif- und Djrillelſter (PLanius minor, italicus, longipennis, vigil, roseus, nigrifrons, eximius und graecus, Enneoctonus minor), eine der \{hönſten Arten der Familie. Das Gefieder. iſt auf der Oberſeite hell aſchgrau, auf der Unterſeite weiß, an der Bruſt wie mit Roſenrot überhaut; Stirn und Zügel ſowie der Flügel bis auf einen weißen Fle>en, der ſih über die Wurzelhälfte der neun erſten Handſchwingen verbreitet, und einen ſ<hmalen weißen Endſaum der Armſchwingen ſ{<hwarz; die vier mittelſten Steuerfedern