Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

Grauwürger: Verbreitung. Nahrung. Weſen. Fortpflanzung. 491

Alle Beobachter ſtimmen mit mir darin überein, daß der Grauwürger zu den anmutigſten und harmloſeſten Arten ſeiner Familie gehört. Er belebt das von ihm bewohnte Gebiet in höchſt anſprechender Weiſe; denn er iſt beweglicher, munterer und unruhiger als jeder andere Würger, hieran und an ſeiner ſ{hlanken Geſtalt ſowie den ſpizigeren Shwingen auh im Sitzen wie im Fliegen leiht vom Raubwürger zu unterſcheiden. Vorteilhaft zeihnet ihn vor dieſem ferner ſeine geringe Raubſucht aus. Naumann verſichert, daß er ihn niemals als Vogelräuber, ſondern immer nur als Kerbtierjäger kennen gelernt habe. Schmetterlinge, Käfer, Heuſchre>en, deren Larven und Puppen bilden ſeine Beute. Lauernd ſigt er auf der Spiße eines Baumes, Buſhes, auf einzelnen Stangen, Steinen und anderen erhabenen Gegenſtänden; rüttelnd erhält er ſi< in der Luft, wenn ihm derartige Warten fehlen, ſtürzt ſih, ſobald er eine Beute gewahrt, plöglih auf den Boden hinab, ergreift das Kerbtier, tötet es und fliegt mit ihm auf die nähſte Baumſpiße zurü>, um es daſelbſt zu verzehren. Dies geſchieht gewöhnlich ohne alle Vorbereitung; denn ſeltener als ſeine Verwandten ſpießt er die gefangenen Tiere vor dem Zerſtückeln auf Dornen und Aſtſpißen.

„Durch Färbung und Geſtalt“ ſagt Naumann, „iſt der ſhwarzſtirnige Würger gleich ſ{hön im Sitzen wie im Fliegen, und da er immer herumflattert und ſeine Stimme hören läßt, ſo macht er ſih auch ſehr bemerklih und trägt zu den lebendigen Reizen einer Gegend nicht wenig bei. Sein Flug iſt leiht und ſanft, und er ſhwimmt öfters eine Stre>e ohne Bewegung der Flügel durch: die Luft dahin wie ein Raubvogel. Hat er aber weit zu fliegen, ſo ſeßt er öfters ab und beſchreibt ſo viele, ſehr flahe Bogenlinien. Seine gewöhnliche Stimme klingt „fjä> kiät! oder hät, ſeine Lokſtimme „Éwiä-kwi-ell-fkwiell‘ und „perletſchhrolletſh“, auh „ſharre> ſharre>‘. Von ſeiner bewunderungswürdigen Gelehrſamkeit, vermöge welcher er den Geſang vieler fleinen Singvögel ganz ohne Anſtoß nachſingen ſoll, habe i< mi<h nie ganz überzeugen können, ungeachtet er ſi< in meiner Gegend ſo häufig aufhält und ih ihn im Sommer täglich beobachten kann. J<h habe ihn die Lokſtimme des Grünlings, des Sperlings/ der Schwalben, des Stieglißes und mehrerer anderen kleinen Vögel und mitunter auh Strophen aus ihren Geſängen untereinander mengen, darunter dann auch ſeine Locktöne öfters mit einmiſchen und auf dieſe Art einen niht unangenehmen Geſang hervorbringen hören ; allein ein langes Lied irgend eines kleinen Sängers im ordentlichen Zuſammenhange hörte ih nie von ihm. Fmmer waren Töne und kurze Strophen aus eignen Mitteln mit eingewebt, und wenn er au< auf Augenblicke täuſchte, ſo ſ<wand der Wahn bald dur dieſe Einmiſchungen. Strophen aus dem Geſange der Feldleren hört man oft von ihm; auch ahmt er den Wachtelſchlag leiſe, aber ziemlih täuſchend nach. Die fremden Töne ahmt er ſogleih, wie er ſie hört, nah und iſt zudem ein ſehr fleißiger Sänger. Daß er den Geſang der Nachtigall auh nachſinge, habe ih no< niht gehört, obglei<h in meinem eignen Wäldchen Nachtigallen und graue Würger in Menge nebeneinander wohnen.“

Das Neſt legt der ſ{hwarzſtirnige Würger gewöhnlich in ziemlicher Höhe in dichtem Gezweige ſeiner Lieblingsbäume an. Es iſt groß, wie alle Würgerneſter aus troŒenen Wurzeln, Queen, Reiſern, Heu und Stroh aufgebant und inwendig mit Wolle, Haaren und Federn weich ausgefüttert. Zu Ende Mai findet man in ihm 6—7 etwa 24 mm lange, 18 mm die, auf grünlihweißem Grunde mit bräunlichen und violettgrauen Fle>en und Punkten gezeichnete Eier, die von beiden Gatten wechſelweiſe innerhalb 15 Tagen ausgebrütet werden. Die Jungen erhalten nur Kerbtiere zur Nahrung. „Wenn ſich eine Krähe, Elſter oder ein Raubvogel ihrem Neſte oder auch nux einem gewiſſen Bezirke ringsum nähert“, ſagt Naumann, „ſo verfolgen ihn beide Gatten beherzt, zwi>en und ſchreien auf ihn los, bis er ſi entfernt hat. Nähert ſich ein Menſch dem Neſte, ſo ſchlagen ſie mit dem Schwanze beſtändig auf und nieder und ſchreien dazu ängſtlich „kä kjäck kiäe und nicht ſelten fliegen