Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

Schmußgeier. Gänſegeier. 455 Gefkröſe, Herz, Lunge, Leber 2c., verſchlang daneben noch alles, was in ſeinen Bereich kam, auch Holz und Erdſtückchen, und erhielt außerdem noh manchen Biſſen von den Reiſenden des Dampfſchiffes. Wenn man ihm ein ganzes Tier vorlegte, ſo ſuchte er ſhon jebt dic Bauchhöhle zu öffnen und verfuhr, wenn man ihm dabei geholfen hatte, ganz nah Art ſeiner Väter. Später ließ er den übrigen Körper der Vögel ſtets ſo lange unberührt, bis er die Vauchhöhle geleert hatte. „Jun ſeinem Heißhunger war er ſtets ſo ungeſtüm, daß er, ſobald er mih ohne Futter in den großen Hühnerſtall kommen ſah, wütend auf mi losſtürzte, ein ununterbrochenes Geſchrei hören ließ, den Kopf heftig ſchüttelte und, ſobald er mich erreichen konnte, in die Füße und Kleider kniff. Bald wußte er mich ſehr wohl von anderen zu unterſcheiden und wendete ſih au<, wenn ih mit mehreren Leuten eintrat, ſtets an mi.“

Es iſt eine Ausnahme, wenn ein Gänſegeier zahm wird. „Man ſagt niht zu viel“, meint mein Bruder, „wenn man behauptet, daß er immer in gewiſſem Grade gefährlich bleibe. Nux ein einziges Mal habe ih in dem Hofe eines Wirtshauſes zu Bayonne einen wirkli gezähmten Gänſegeier geſehen. Er hing freilih an einer langen, dünnen Kette und war in ſeinen Bewegungen hierdur<h weſentlich gehindert. Dieſer Vogel kam auf den Ruf ſeines Pflegers von der Stange herabgeflogen, näherte ſih vertraulih dem Manne und duldete ſogar, daß dieſer ihn zwiſchen die Beine nahm und ihm Kopf und Hals und Nüken ſtreichelte. Mit den im Wirtshauſe befindlichen Hunden lebte er ebenfalls in größter Einigkeit.“ Auch Graf Lázár, der den Gänſegeier einen tüdiſchen, traurigen Geſellen nennt, der mit heimtü>iſhen Blödſinnigen eine gewiſſe Ähnlichkeit habe, kannte zwei ausnahmsweiſe zahme Vögel dieſer Art. Der eine, der verwundet worden war, folgte ſeinem Herrn fliegend bis auf das Feld hinaus, unternahm ſelbſtändig kleine Ausflüge und blieb zuweilen ein paar Tage aus, kam aber immer wieder zu ſeinem Pfleger zurü>k. Ein Fleiſcher hielt einen anderen Gänſegeier mehrere Fahre lang lebend auf ſeinem Hofe. Dieſer Geier lebte in größter Freundſchaft mit einem alten Fleiſcherhunde. Als leßterer ſtarb, wurde der Leichnam dem Geier vorgeworfen; dieſer aber rührte ſeinen alten Freund, obglei er hungrig war, niht an, wurde traurig, verſchmähte fortan alle Nahrung und lag am achten Tage verendet neben dem toten Hunde.

Jn Ägypten wird der Gänſegeier niht ſelten gefangen, weil man die Federn in vielfacher Weiſe benußt. Namentlich die Shwung- und Steuerfedern finden mancherlei Verwendung zu Shmu> und Wirtſchaftsgegenſtänden. Auf Kreta und in Arabien ſoll der Balg an Kürſchner- verkauft, von dieſen gegerbt und zu einem geſchäßten Pelzwerke zubereitet werden.

Unter allen Mitgliedern der Unterfamilie hat kein einziger eine ſo große Berühmtheit erlangt wie der Shmuß geier, der ſeit uralter Zeit bekannte und beſchriebene Kotoder Malteſergeier, der Racham, Alimoſch, die Henne der Pharaonen, und wie er ſonſt no< benannt worden ſein mag (Neophron percnopterus und ginginianus, Vultur percnopterus, albus, meleagris, ginginianus und stercorarius, Percnopterus aegyptiacus). Er iſt es, deſſen Bildnis die altägyptiſhen Bauwerke zeigen, der von den alten Ägyptern und den Hebräern als Sinnbild der Elternliebe gefeiert wurde und heutigestags no< wenigſtens keine Mißachtung auf ſih gezogen hat. Er unterſcheidet ſih von allen bekannten Arten ſeiner Unterfamilie dur ſeine rabenähnlihe Geſtalt, die langen, ziemlih ſpißen Schwingen, den langen, abgeſtuften Schwanz und die Art und Weiſe der Befiederung. Der Schnabel iſt ſehr in die Länge geſtre>t, die Wachshaut über mehr als halbe Schnabellänge ausgedehnt, der Haken des Oberſchnabels lang herabgefrümmt, aber