Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

464 Zehnte Ordnung: Stoßvögel; zweite Familie: Neuweltsgeier.

Humboldts Meſſungen beträgt die Länge des Männchens 1 02, die Breite 2,75, die Fittichlänge 1,15 m, die Schwanzlänge 37 em, die Länge des Weibchens 2,5, die Breite 24 cm weniger.

Das Hochgebirge Südamerikas iſt die Heimat des Kondors. Er verbreitet ſih von Quito an bis faſt zur Südſpitze des Erdteiles. Fn den Andes bevorzugt ex einen Höhengürtel zwiſchen 3000 und 5000 m; an der Magalhäezſtraße und in Patagonien horſtet er in ſteilen Klippen unmittelbar an der Küſte. Auch in Peru und Bolivia ſenkt er ſich oft bis zu dieſer Küſte hernieder, iſt aber, laut Tſchudi, in der Höhe mindeſtens zehnmal ſo häufig wie in der Tiefe. Nach A. von Humboldt ſieht man ihn oft über dem Chimborazo ſ{<weben, ſe<hsmal höher als die Wolkenſchicht, die über der Ebene liegt, 7000 m über dem Meere

Lebensweiſe und Betragen des Kondors ſind im weſentlichen die der Geier. Er lebt während der Brutzeit paarweiſe, ſonſt in Geſellſchaften, wählt ſich ſteile Felsza>en zu Nuheſißen und kehrt, wie die Menge des abgelagerten Miſtes beweiſt, regelmäßig zu ihnen zurü>. Beim Wegfliegen erheben ſich die Kondore durch langſame Flügelſchläge; dann ſ{hweben ſie gleihmäßig dahin, ohne einen Flügel zu rühren. Erſpäht einer von ihnen etwas Genießbares, ſo läßt er ſih hernieder, und alle übrigen, welche dies ſehen, folgen ihm raſh nah. „Es iſl“, ſagt Tſchudi, „oft unbegreiflich, wie in Zeit von weniger als einer Viertelſtunde auf einem hingelegten Köder ſi< Scharen von Kondoren verſammeln, während vorher auch das ſchärfſte Auge keinen einzigen entde>en konnte.“ Waren ſie im Finden glücklich, ſo kehren ſie gegen Mittag zu ihren Felſen zurück und verträumen hier einige Stunden.

Dex Kondor iſ, ebenſo wie die Geier, vorzugsweiſe Aasfreſſer. Humboldt berichtet, daß ihrer zwei niht bloß den Hirſh der Andes und die Vicuña, ſondern ſelbſt das Guanaco und ſogar Kälber angreifen, dieſe Tiere au<h umbringen, verfolgen und ſo lange verwunden, bis ſie atemlos hinſtürzen, und Tſchudi beſtätigt, daß die Kondore den wilden und zahmen Herden folgen und augenbli>li< über ein verendetes Tier herfallen. Unter Umſtänden ſtürzen ſie ſih auf junge Lämmer, Kälber, ſelbſt auf gedrüctte Pferde, die ſich ihrer niht erwehren können und es geſchehen laſſen müſſen, daß ſie das Fleiſch rings um die Wunde wegfreſſen, bis ſie in die Bruſthöhle gelangen und jene endlih umbringen. Beim Ausweiden exrlegter Vícuïias oder Andeshirſche ſieht ſi<h der Jäger regelmäßig von Scharen von Kondoren umkreiſt, die mit gieriger Haſt auf die weggeworfenen Eingeweide ſtürzen und dabei niht die geringſte Scheu vor dem Menſchen an den Tag legen. Ebenſo ſollen ſie den jagenden Puma beobachten und die Überreſte ſeiner Tafel abräumen. „Wenn die Kondore“, ſagt Darwin, „ſih niederlaſſen und dann alle ſi plößlih zuſammen erheben, ſo weiß der Chilene, daß es der Puma war, der, ein von ihm erbeutetes und getötetes Tier bewachend, die Näuber hinwegtreibt.“ Fn der Lammzeit der Schafe beobachtet der Kondor auch die Herden ſehr genau und nimmt die Gelegenheit wahr, junge Ziegen oder Lämmer zu rauben. Hochtragende Kühe müſſen, laut Tſchudi, immer in einem in der Nähe der Wohnungen errichteten, mit einer Mauer eingefaßten Corral oder Hag getrieben und dort ſorgfältig überwacht werden; denn ſobald eine Kuh gekalbt hat, erſcheinen unverzüglich die Rieſenvögel, um ſich des Kalbes zu bemächtigen. Wird es nicht kräftig dur<h Menſchen verteidigt, ſo iſt es verloren. Schäfer- und Hirtenhunde der von Kondoren heimgeſuchten Gegenden ſind abgerichtet, hinauszulaufen, ſolange der Feind in den Lüften iſt, nah oben zu ſehen und heftig zu bellen. Am Meeresſtrande nähren ſi die Vögel von den dur die Flut ausgeworfenen großen Seeſäugetieren, die Südamerika in großer Menge umſ<hwärmen. Menſ<hlihe Wohnungen meiden ſie, greifen au< Kinder niht an. Oft ſchlafen ſolche in der freien Höhe, während ihre Väter Schnee ſammeln, ohne daß dieſe irgend welhe Sorge wegen der Raubluſt des Kondors haben müßten. Jndianer verſichern einſtimmig, daß er dem Menſchen nicht gefährlih werde.