Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

Kondor: Verbreitung. Lebensweiſe. Fortpflanzung. 465

Bei der Mahlzeit verfahren die Kondore genau wie die Geier. „Zuerſt“, ſagt Tſhudi, „werden diejenigen Teile, welhe am wenigſten Widerſtand bieten, weggeriſſen, beſonders die Augen, die Ohren, die Zunge und die weichhäutigen Teile um den After. Hier öffnen ſie gewöhnlich ein großes Loch, um in die Bauchhöhle zu gelangen. Wenn ſi eine größere Anzahl dieſer Vögel auf einem Tiere verſammelt, ſo reichen die natürlichen Öffnungen nicht hin, um ihrem Heißhunger raſche Befriedigung zu gewähren. Sie reißen ſih dann einen künſtlichen Weg auf, gewöhnlih an der Bruſt oder am Bauche. Die Fndianer behaupten, der Kondor wiſſe ganz genau, wo das Herz der Tiere liege, und ſuche dies immer zuerſt auf.“ Vollgefreſſen wird der Kondor träge und ſ{hwerfällig, und auch er würgt, wenn er gezwungen auffliegen muß, die im Kropfe aufgeſpeicherte Nahrung heraus. „Der Kondor iſt ein ſtolzer, majeſtätiſher Vogel, wenn er mit ausgebreiteten, faſt bewegungslofen Shwingen ſih in den Lüften wiegt oder, auf einer hervorragenden Felſen|piße ſih re>end, ſcharf in das Land hinein nah Beute ſpäht:

Er pat den Fels mit krall’ger Hand, Der Sonne nah’ im öden Land, Im blauen Luftmeer iſt ſein Stand.“

„Wenn er aber mit unſäglicher Gier ſeine Beute kröpft, große Feben von Aas hinunterwürgt und dann, vollgefreſſen, kaum no< einer Bewegung fähig, neben den Reſten ſeines die Umgebung verpeſtenden Mahles zuſammengekauert daſißt, iſt er doh nur ein ekelhafter Aasgeier.“

Die Brutzeit des Kondors fällt in unſere Winter- oder Frühlingsmonate. Abſonderliche Liebeserklärungen ſeitens des Männchens gehen der Paarung voraus. Wie ih an gefangenen Kondoren beobachtete, balzen beide Geſchlechter förmlich, um ihre Gefühle auszudrü>en. Fn Zeitabſtänden, die je nah der Höhe ihrer Erregung länger oder kürzer ſein können, breiten ſie die Flügel, biegen den vorher geſtre>ten und etwas aufgeblähten Hals nach unten, ſo daß die Schnabelſpiße faſt den Kropf berührt, laſſen unter erſichtlihem Zittern der Zunge eigenartige, trommelnd murmelnde oder polternde Laute vernehmen, die mit ſo großer Anſtrengung hervorgeſtoßen werden, daß Gurgel und Bauch in zitternde Bewegungen geraten, und drehen ſi, langſam, mit kleinen Schritten trippelnd und mit den Flügeln zitternd, um ſich ſelbſt. Nach Verlauf von 1, 2 oder $ Minuten ſtoßen ſie den ſcheinbar eingepreßten Atem fauchend aus, ziehen den Hals zurü> und die Flügel ein, ſchütteln ihr Gefieder, hmeißen wohl au< und nehmen ihre frühere Stellung wieder ein. Der andere Gatte des Paares nähert ſih mitunter dem balzenden, ſtreichelt ihn zärtlih mit Schnabel und Kopf, umhalſt ihn förmlih und empfängt von ihm ähnliche Liebkoſungen. Das ganze Liebesſpiel währt ungefähr 1 Minute, wird aber im Laufe einer Vormittagsſtunde 10 —20mal wiederholt. Der Horſt ſteht auf unzugänglichen Felſen, iſt aber kaum Neſt zu nennen; denn oft legt das Weibhen ſeine 2 Eier auf den na>ten Boden. Die Eier, deren Längsdurhmeſſer 108 und deren Querdurchmeſſer 72 mm beträgt, ſind einfarbig und glänzend weiß. Häufiger als beim Bartgeier entſhlüpfen zwei Junge. Sie kommen in gräulihem Daunenkleide zur Welt, wachſen langſam, bleiben lange im Horſte und werden auh nah dem Ausftiegen no< von ihren Eltern ernährt, bei Gefahr auh mit großem Mute verteidigt. „Jm Mai 1841“ ſagt Tſchudi, „verirrten wir uns bei Verfolgung eines angeſchoſſenen Hirſches in die ſteilen Kämme des Hochgebirges und trafen kaum 1,5 m über uns auf drei brütende Weibchen, die uns mit Grauſen erregendem Gekrächze und mit den drohendſten Gebärden empfingen, ſo daß wir ſür<hten mußten, durch ſie von dem kaum 60 ecm breiten Felſenkamme, auf welchem wir uns befanden, in den Abgrund geſtoßen zu werden. Nur der ſ<hleunigſte Rü>kzug auf einen breiteren Plaß konnte uns retten.“

Brel, Tierleben. 3. Auflage. YI. 30