Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

466 Zehnte Ordnung: Stoßvögel; zweite Familie: Neuweltsgeier.

Die Jndianer fangen viele Kondore, weil es ihnen Vergnügen gewährt, ſie zu peinigen. Man füllt den Leib eines Aaſes mit betäubenden Kräutern an, die den Kondor nah dem Genuſſe des Fleiſches wie betrunken umhertaumeln machen, legt in den Ebenen Fleiſch inmitten eines Geheges nieder, wartet, bis er ſi<h vollgefreſſen hat, ſprengt, ſo ſ{hnell die Pferde laufen wollen, herbei und ſchleudert die Wurfkugeln unter die {<mauſende Geſellſchaft, wendet endlih auch eine abſonderlihe Fangweiſe an, die ſhon von Molina geſchildert und von Tſchudi und anderen beſtätigt wird. Ein friſches Kuhfell, an welchem no< Fleiſchſtü>ke hängen, wird auf den Boden gebreitet, ſo daß es einen unter ihm liegenden, hinlänglih mit Schnüren verſehenen Fndianer verde>t. „Dieſer ſchiebt, nahdem die Aasvögel herbeigekommen ſind, das Stück des Felles, auf welchem ein Kondor ſitt, an deſſen Füßen wie einen Beutel in die Höhe und legt eine Schnur darum. Sind einige ſo gefeſſelt, ſo kriecht er hervor, andere Fndianer ſpringen herbei, werfen Mäntel über die Vögel und tragen ſie ins Dorf, woſelbſt ſie für Stierheßen aufgeſpart werden. Eine Woche vor Beginn dieſes grauſamen Vergnügens erhalten die Kondore nichts zu freſſen. Am beſtimmten Tage wird je ein Kondor einem Stiere auf den Rücken gebunden, nachdem dieſer mit Lanzen blutig geſtochen worden. Der hungrige Vogel zerfleiſcht nun mit ſeinem Schnabel das gequälte Tier, das zur großen Freude der Fndianer wütend auf dem Kampfplaße herumtobt. Fn der Provinz Huarochirin befindet ſich auf der Hochebene eine Stelle, wo dieſe Vögel mit Leichtigkeit in Menge erlegt werden. Dort iſt ein großer, natürlicher, ungefähr 20 m tiefer Trichter, der an ſeiner oberen Mündung ebenſoviel Durchmeſſer hat. An ſeinem äußerſten Rande wird ein totes Maultier oder Lama hingelegt. Bald verſammeln ſi< die Kondore, ſtoßen beim Herumzerren das Tier in die Tiefe und folgen ihm, um es dort zu verzehren. Sobald ſie vollgefreſſen ſind, können ſie ſi niht mehr aus dem kaum 5 m weiten Boden des Trichters erheben. Dann ſteigen die Jndianer, mit langen Stöcken bewaffnet, hinunter und ſ{<lagen die ängſtlih kreiſhenden Vögel tot.“ Tſchudi, der Vorſtehendes erzählt, fügt hinzu, daß er ſelbſt an einem ſolchen Fange teilgenommen habe, bei welchem 28 Stü> erlegt wurden.

An gefangenen Kondoren ſind ſehr verſchiedene Wahrnehmungen gemacht worden. Einzelne werden überaus zahm, andere bleiben wild und biſſig. Hae>el pflegte längere Zeit ihrer zwei, die höchſt liebenswürdig waren. „Jhren Beſizer“, ſchreibt Gourcy, „haben ſie bald ſehr liebgewonnen. Das Männchen \{<wingt ſich auf ſeinen Befehl von der Erde auf die Sibſtange, von dieſer auf ſeinen Arm, läßt ſi< von ihm herumtragen und liebfoſt ſein Geſicht mit dem Schnabel aufs zärtlichſte. Hae>el ſte>t ihm den Finger in den Schnabel, ſett ſih ihm faſt frei auf den Nücen, zieht ihm die Halskrauſe über den Kopf und treibt mit ihm allerlei Spielereien, wie mit einem Hunde, Dabei wird das Weibchen über das verlängerte Faſten ungeduldig und zieht ihn am Roe, bis es Futter bekommt. Überhaupt ſind ſie auf die Liebkoſungen ihres Herrn ſo eiferſüchtig, daß ihm oft einer die Kleider zerreißt, um ihn von dem anderen, mit welchem ex ſpielt, wegzubringen.“ Unter mitgefangenen Familienverwandten wiſſen ſie ſi< Achtung zu verſchaffen und dieſe zu behaupten. Wenn és zum Beißen kommt, gebrauchen ſie ihren Schnabel mit Geſchi>lichkeit, Gewandtheit und Kraft, ſo daß ſelbſt die biſſigen Gänſegeier ihnen ehrſur<htsvoll Plaß machen.

„Wie der Kondor die Aufmerkſamkeit der erſten Reiſenden in Peru auf ſih zog“, ſagt Tſchudi, „ſo that es in Mexiko und Südamerika der Königsgeier. Er wird {hon von Hernandez angeführt. Sein lebhaftes, zierlihes Gefieder, wie es bei keinem anderen Raubvogel vorkommt, verdient ihm den Namen Rex yulturum, König der Geier.“ Zudem iſt er, wie alle großen Arten ſeiner Sippſchaft, welche mit kleineren verkehren, der Fürſt und Beherrſcher dieſer leßteren, die er dur<h Stärke und Eigenwillen in höchſter Achtung hält.