Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

468 Zehnte Ordnung: Stoßvögel; zweite Familie: Neuweltsgeier.

Königs8geiers unterrichtet worden. Er verbreitet ſich vom 32. Grade ſüdlicher Breite an über alle Tiefländer Südamerikas bis Mexiko und Texas und ſoll ſelbſt in Florida vorgekommen ſein. Jm Gebirge findet er ſih nur bis zu 1500 m über dem Meere. Sein eigentliches Wohngebiet ſind die Urwaldungen oder die mit Bäumen beſtandenen Ebenen. Auf den baumloſen Steppen und auf waldloſen Gebirgen fehlt er gänzlih. Er iſt nah d'Orbigny höchſtens halb ſo häufig wie der Kondor, 10mal ſeltener als der Urubu und 15mal ſeltener als der Gallinazo. Die Nacht verbringt er, auf niederen Baumzweigen ſißend, meiſt in Geſellſchaft, ſcheint auh zu gewiſſen Schlafpläßen allabendlih zurüczukehren; mit Anbruch des Morgens erhebt er ſi< und {webt längs des Waldes und in deſſen Umgebung dahin, um ſi<h zu überzeugen, ob etwa ein Jaguar ihm die Tafel gede>t habe. Hat er glü>li<h ein Aas erſpäht, ſo ſtürzt er ſi< ſauſenden Fluges aus bedeutender Höhe hinab, ſeßt ſih aber erſt in geringer Entfernung nieder und wirft nur dann und wann einen Vli>k auf das le>ere Mahl. Oft gewährt er ſeiner Gier erſt nach einer Viertel- oder halben Stunde freien Lauf; denn er iſt immer vorſichtig und überzeugt ſih vorher auf das ſorgfältigſte von ſeiner Sicherheit. Auch er überfrißt ſi<h man<hmal ſo, daß er \ſi<h faum no< bewegen kann. FJ ſein Kropf mit Speiſe gefüllt, ſo verbreitet er einen unerträglichen Aasgeruh; iſt ex leer, ſo duftet er wenigſtens ſtark na<h Moſchus. Nach beendigter Mahlzeit fliegt er einem hochſtehenden, am liebſten einem abgeſtorbenen Baume zu und hält hier Mittagsruhe.

Gewöhnlich ſind es die überall häufigen Truthahngeier, die noh früher als der Königsgeier ein Aas erſpäht haben und ihm dieſes dur ihr Gewimmel anzeigen. „Mögen auh“, jagt Shomburgk, „Hunderte von Aasgeiern in voller Arbeit um ein Aas verſammelt ſein: ſie werden ſih augenbli>li< zurücßziehen, wenn ſi der Königsgeier nähert. Auf den nächſten Bäumen oder, wenn dieſe fehlen, auf der Erde ſißend, warten ſie dann mit gierigen und neidiſhen Blicken, bis ihr Zwingherr ſeinen Hunger an der Beute geſtillt und ſich zurü>gezogen hat. Kaum iſt dies geſchehen, ſo ſtürzen ſie wieder mit wilder und geſteigerter Gier auf ihr verlaſſenes Mahl, um die von jenem verſ<hmähten Überbleibſel zu verſ<lingen. Da ich ſehr oft Zeuge dieſes Herganges geweſen bin, kann ih verſichern, daß ih fein anderer Vogel einer gleihen Achtung und Aufopferung von ſeiten der kleinen Aasgeier rühmen kann. Wenn dieſe einen Königsgeier in der Ferne zu dem Mahle, bei welchem ſie ſchon thätig beſchäftigt find, nahen ſehen, ziehen ſie ſi< augenbli>li< zurü> und machen, wenn der Königsgeier wirkli<h erſcheint, ganz eigentümlihe Bewegungen mit den Köpfen gegeneinander. Sie ſcheinen ihn förmlih zu begrüßen; ſo wenigſtens deutete ih das Emporſtre>en der Köpfe bei dem Auf- und Niederbewegen der Flügel. Hat der Geierkönig Plaß genommen, ſo ſigen ſie vollkommen ftill und ſehen mit verlangendem Magen ſeiner Mahlzeit zu.“ Tſchudi bezweifelt Vorſtehendes, weil er das Herrſcher- und Sklavenverhältnis niht beobachtet hat, und bezeihnet Shomburgks Angaben als unrichtig; genau dasſelbe Verhältnis findet aber, nach eignen vielfachen Beobachtungen, zwiſchen den afrikaniſchen Ohren- und den Shmußgeiern und, laut Ferdon, ebenſo zwiſchen dem Kahlkopfgeier und leßteren ſtatt. Überdies brauchen ſih ja die nämlichen Vorgänge niht immer in derſelben Weiſe und ferner auh niht unter allen Umſtänden abzuſpielen.

Azara erfuhr von den Fndianern, daß der Königsgeier in Baumhöhlen niſte; der Prinz von Wied bezweifelt, Tſchudi beſtätigt dieſe Angabe; Shomburgk hat hierüber nihts erfahren können, d’Orbigny das Neſt auh niemals geſehen, aber dasſelbe gehört, was man Azara erzählte; Burmeiſter ſagt, daß der Königsgeier auf hohen Bäumen, ſelbſt auf den Spigen alter, abgeſtorbener ſtarker Stämme niſte. Die 2 Eier, die das Gelege bilden, ſollen weiß ſein. Ausgeflogene Junge ſieht man noh monatelang in Geſellſchaft ihrer Eltern.