Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit
S
‘8. Kanten = Zur Zeit des Paraeeisis (14931541) begannen die abendl. Ärzte das - auf Formosa und in Japan wachsende Folz des Kampferbaumes zu verwenden, ein Wiederbelebungsmittel für die Welt, die ohne Verlüngung durch Asien abgestorben wäre.
Aber genug solcher Aufzählungen! Sie ermüden. Ich will nur noch einige heitere Züge hier anfädeln, welche Europas Emporkömmlingstum kennzeichnen. ....
In der venetianischen Chronik des Andrea Dandalo (1354) wird von einer Dogeressa berichtet, welche so ausschweifend lebte, daß sie, statt mit den Fingern, mit einem Zweizack (Gabel) gegessen habe. „Zur Strafe dafür“, schreibt der Chronist, „wurde sie bei lebendigem Leibe stinkend“. — Auf den klassischen Tafelbildern des 16. Jahrhunderts, z. B. Leonardos Abendmahl (1499), findet man nur Messer abgebildet, aber noch keine Gabel. — Zur Zeit des Barbarossa (+1190) war noch unbekannt, nachts in Hemden zu schlafen. Die Gemahlin Karls VII. von Frankreich (71461), Maria von Anjiou, war die einzige Französin, welche zwei Hemden besaß, während Karls Geliebte, die in Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘ verklärte Agnes Sorel deren nur eines hatte. Noch in späteren Jahrhunderten erscheint das Hemd als kostbarer Schatz in Verzeichnissen der Mitgiiten der Prinzessinnen aus den Häusern Bourbon und Tudor. Jakob I. von England verbrannte fast bei einer Feuersbrunst im Jahre 1620, weil die Hofdamen sich scheuten, ihn zu wecken, da er nach Sitte der Zeit nackend schliei. Taschentücher (Fazilletlein) kamen im 16. Jahrhundert als Luxusware nach Italien. Nach dem berühmten „libro del cortegiano“ des Grafen Castiglione (Venedig 1528) waren sie nur Vorrecht der vornehmen Hofleute.. Noch um 1850 schneuzte sich Bürger und Bauer, Mann und Weib, mit der Hand.
Diese vielfach vergessenen Tatsachen empfangen ihr rechtes Licht, wenn wir danebenstellen und uns vergegenwärtigen die fabelhaite Umwandlung Europas vermöge des Werktums. Dann erst begreifen wir, daß dank der mechanischen Überlistung der Natur, die Herrschaft über die gesamte lebende Erde zugefallen ist einer Menschengruppe, deren Gemüt und Gesinnung unentwickelter ist als die Werke ihrer Hände und die Leistungen ihres Kopfes.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die sachlichtechnische Sphäre der rechnenden Intelligenz weit schneller anwächst als Gefühl und Sittigung der Herzen diesem Fort-