Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit
Bolschaiia Guschtschiza im selben Distrikte beschlagnahmte man zehn Pfund gekochten Menschenileisches. Eine Untersuchung ergab, daß zehn Familien des Dorfes sich von Menschenfleisch ernähren. Im Dorie Liupimosk fand man alte Leichname, die ausgegraben worden waren und von denen Teile verzehrt wurden. Im Dorfe Slawenka kochte die Bäuerin Golodkina den Leichnam ihrer ältesten Hungers gestorbenen Tochter und verteilte das Fleisch unter ihre drei noch lebenden hungernden Kinder. Im Dorfe Jepinowo ermordete eine Bäuerin ihre acht Jahre alte Tochter, zerstückelte den Leichnam und kochte ihn. Nachdem sie gegessen hatte, fiel sie in Wahnsinn.‘
Nunmehr ein paar Worte aus dem von dem Schweizer -
Volksdeputirtem Fritz Brupbacher soeben erstattetem Bericht über eine Auskunftsreise nach Südrußland:
‚Spassk liest 100 Werst von Kasan. Man sagte mir, daß 50 Prozent der Bevölkerung sterben würde, wenn nicht sofortige Hilfe käme. Der Bezirk hat etwa 150000 Einwohner. Es starben in jedem Monat etwa 2000. Die meisten Auswanderer lassen ihre Kinder zurück. Hie und da töten sie sie auch... Von Spassk fuhren wir ins Hungerdorf. Das typische Hungerdorf; dies Mal heißt es Pitschkasi. Greifen wir ein paar Häuser heraus. Ohne besondere Wahl, denn alle sind gleich. Da liegen neun Kinder umher, ganz absemagert. Ihre einzige Nahrung ist seit neun Monaten: gemahlene Haselnußkätzchen. Jetzt ertragen sie‘s nicht mehr. Der Vater hat Hungerödem; liegt bewezungsunfähig auf dem Ofen. Er wird sterben; eines der Kleinen ebenfalls. — Weiteres Haus: 13 Menschen. Frau: Oedem. Ebenso ein Kind. 4 übrigen ganz abgemagert. 3 Pferde und eine Kuh sind schon aufgegessen. Die Menschen essen Stroh und Spreu. Weiteres Haus: 11 Menschen. 3 Kinder Oedem. Vater ebenso. Man ißt Brot aus Stroh, Gänsekraut (Lebeda) und Spreu. Auigegessen hat man: 3 Pferde, 5 Schafe, 1 Schwein, die 10 Hühner. Jetzt hat man nichts mehr. — Die Amerikaner füttern 100 Kinder. Die amerikanische Portion ist ein kleines Tellerchen Grütze; für jedes Kind 700 Kalorieen zu essen.
Aus einem Bericht des Reisenden Colin Roß:
‚Über die russische Steppe jagen die apokalyptischen Reiter und Europa sieht nicht auf ... Die Fälle von Kannibalismus und Leichenfraß hat man in Europa als etwas Ungeheuerliches empfunden. Das Ungeheuerliche ist, daß in den schlimmsten Hungergebieten derartige Fälle das Alltäeliche sind. Eltern schlachten ihre Kinder, Kinder fressen ihre Eltern, der Bruder die Schwester. Ein häufig vorkommender Fall ist, daß sich der Vater auf die Reise nach dem Norden machte, um Brot herbeizuschaffen. Irgendwo am Wege verendet er. Inzwischen stirbt zu Hause die Mutter und die Kinder machen sich über die Leiche her. In einem Dorfe fand man einen Jungen tot vor der Leiche seines &eschlachteten Bruders, das Messer in der Hand, Reste der schauerlichen Mahlzeit noch aut den Lippen. All das wird festgestellt, protokollirt, fotografirt. In. manchen Gegenden, so in den <riechischen Kolonieen am Schwarzen Meer haben sich Menscheniresserbanden gebildet, die auf das kostbare Wild Jagd machen, um es zu schlachten und zu fressen, während sich in den Leicheniraß die Hunsernden mit den verwilderten Hunden teilen. Im allgemeinen stirbt das russische Volk mit einem für Europäer unbegreiflichem Stoizismus. Am Asowschen und Schwarzen Meer sind ganze Gemeinden ‘schon ausgestorben. In den Städten kann man für Geld alles haben undvordenreich besetzten Läden schleichen und liegen die Verhungernden ohne. an Aufstand gegen die Satten zu denken. In manchen Leichenhallen findet man zwischen den Toten noch Lebende. Sie schleichen sich ein, um neben den Leichen liegend in Ruhe zu sterben und wenigstens Anspruch auf ein ordentliches Grab zu haben.“