Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

eine entschiedene Lockerung des Kontakts, so bei dem langen Hageren Pettenkofens (XII, 5) mit der zwiespältigen Seele. Moser (XIV, 3) blickt verlegen zur Seite. Siegfried (IX, 1) ist noch den Menschen fremd und sucht sie in der Ferne. Bei Josma Selim (X, 9) steht der Seitenblick im Dienst der Koketterie, denn obwohl er scheinbar den Kontakt löst, verrät doch die sonst durchaus offene Einstellung, insbesondere das Lächeln, die Bereitschaft zur Kontaktanknüpfung; der Seitenblick stellt also nur Reiz und Würze dar, den anziehenden Widerstand, der eben die Diagnose auf Koketterie rechtfertigt.

Besonders anschaulich führt uns den Blickausdruck ein Vergleich zwischen Bildern Goethes und Shakespeares vor. Nur selten zeigt Goethes Blick Kontakt mit dem Beschauer, und dies charakteristischerweise hauptsächlich in seiner Weimarer Zeit als Minister (Bilder von Bury II, 3, und Kügelgen II, 4). Sonst blickt er meist vor sich hin — der Dichter, der seiner inneren Welt zugewendet ist. Auf dem Stieler-Bild (II, 5) blickt er sogar trotz der uns zugewendeten Haltung zur Seite. Er, der die Welt in ihren Höhen und Tiefen kennengelernt hat, hat nicht gefunden, was er suchte, das sagt uns sein Antlitz (vgl. später die Mundstellung), und um geflissentlich anzudeuten, daß die innere Welt, die er schuf, und die er aus der äußeren schuf, dennoch mit ihr sich nicht mehr deckt, projiziert er sie so in eine andere Richtung.

Anders Shakespeare. Auf dem Bild, das ihn als Lyriker zeigt (II, 7), blickt er in etwas seitlicher Haltung — wirklichkeitsabgewandt — vor sich hin auf seine Phantasiewelt. Aber der Dramatiker Shakespeare (II, 8) wendet sich aus seiner seitlichen Haltung voll und kühn den Menschen zu, die er schildert, zu denen er selbst gehört und an deren Leiden und Freuden er einen offenbar noch intimeren Anteil nimmt als der zurückhaltende und oft sogar scheue Goethe.

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