Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen
3. Der Blick aufwärts oder abwärts
Auch hier kann es sich um einen Kontaktblick handeln, der bloß? die dem Beschauer nicht zugewendete Körperhaltung kompensieren soll. So blickt der Hochmütige die Menschen von oben herab an. Umgekehrt trifft aus gedeckter, geduckter Stellung ein Aufwärtsblick lauernd den Gegner (Schmeling XII, 8). Aus geneigter, zugeneigter Haltung kann bei offener Zuwendung demselben Blick allerdings auch eine von Zuversicht und gläubigem Vertrauen getragene Liebe zugrunde liegen (Frau Montessori IV, 8).
Dieses Beispiel führt uns zum Fall der Zuwendung der dargestellten Person zu einer ihr selbst übergeordneten Welt, zu der sie emporschaut. Dieser Blick kann etwas Schrecklichem, Erhabenem gelten, wie der Aufwärtsblick des Grauens der Frau vom Piz Palü (XI, 2); es kann aber auch ein harmloser Anlaß sein, der ein schwaches Menschenkind überwältigt (Baby I, 2). In verheißender Symbolik aber rechtfertigt sich der emporgerichtete Blick im Ecce Homo (XIII, 4) als gläubiges Aufschauen zum Vater im Himmel, jener Liszts (IX, 2) als Inbrunst und Gebet des Suchenden, der Verdis (VI, 6), aber auch unsres Straßenkehrers (XVI, 3) als Idealismus. Hingegen gilt der Abwärtsblick einer unteren Welt, einer Unterwelt der Seele, die eine meist unheilvolle Anziehungskraft auf den Unterliegenden, den Bedrückten, Traurigen, aber auch auf den leicht Verstimmbaren ausübt. Darum schlägt der sich seiner Minderwertigkeit oder seiner Schwäche Bewußte die Augen nieder, entweder betroffen von einem unangenehmen Eindruck (Tom XIV, 6) oder versunken in trübe, schwermütige Gedanken (Heine VIII, 9) oder in höchster Trauer und Betrübnis (Jesus XIII, 5). Aber auch die Vergine (IV, 6) hat die Wimpern gesenkt, durchaus nicht in trübseliger Verhängtheit, sondern in süßer Träumerei;
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