Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

so daß ein Neger, der unter Negern für sinnlich gelten soll, noch wulstigere Lippen haben müßte. Nun aber lernten wir schon an den Kretschmer-Typen, wie leicht sich in der Vererbung körperliche Merkmale von den ihnen ursprünglich zugeordneten seelischen trennen. Es können also in solchen Fällen auch andere physiognomische Merkmale täuschen, mögen sie gleich erstarrte ursprüngliche Ausdrucksmerkmale sein. Halten wir also fest, daß wir auch aus konstitutionell dünnen Lippen auf Überwiegen des Willens, aus konstitutionell dicken auf Überwiegen der Empfindung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schließen dürfen, aber doch nur mit Vorsicht und unter Vorbehalt. Auch mit dem Lebensalter verändert sich die Fülle der Lippen. So wie das Kindesalter durch volle, ist das Greisenalter durch dünne Lippen charakterisiert, was gewiß mit einem Schwinden der Empfindungsfähigkeit zusammenhängt (Schopenhauer Fig. 23).

Als ob es an den natürlichen Schwierigkeiten, welche uns die Physiognomik der Lippen aufgibt, noch nicht genug wäre, sucht ein Teil der Menschheit, nämlich der weiblichen, sie noch geflissentlich zu vergrößern, indem ein angeborener Grad der Lippenfülle, der der seelischen Beschaffenheit nicht entspricht, mit kühner Hand korrigiert, gleichsam mit dem Rotstift zensuriertt wird. Kurz, das Schminken der Lippen ist ein bedeutsamer Bestandteil der weiblichen Maske, fast noch mehr als die Ausgestaltung der Augenbrauen und Wimpern, um so mehr als man die Lippen nicht nur röter, also scheinbar gespannter, sondern auch dünner oder dicker schminken kann (Dreigroschenoper XI, 4).

2. Lippenschluß

Der Schluß der Lippen hat ähnliche Bedeutung wie ihre Fülle, gewährt aber noch den physiognomischen Vorteil, daß er nicht in einer Körperform erstarren kann wie die Fülle,

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