Griechische Bildwerke : mit 140, darunter etwa 50 ganzseitigen, Abbildungen

XI

Das Bedürfnis, auch in geistigen Dingen einen festen Anfang zu setzen, zugleich das deutliche Bewußtsein, daß immer im entscheidenden Moment die Fähigkeiten einer Epoche sich in dem Geiste eines überragendenMannes zusammenzufinden pflegen, hat die Griechen dazu geführt, die ersten wirklich organisch durchgebildeten Statuen den Händen eines bestimmten Mannes zuzuschreiben. Mythisch oder halbmythisch hebt mit dem Namen des Dädalos die Überlieferung der griechischen Kunst an, wie die Kunde von der ältesten Poesie sich in den Mythus von Orpheus verliert.

Dädalos, heißt es, hat zuerst die Beine der Bildsäulen zur Schrittstellung geöffnet und ihnen die Arme vom Körper gelöst. Die Jünglingsstatue aus Tenea (1) mag diesen dädalischen Typus verkörpern. Das Grundschema ist das ägyptischer Bildwerke, der Geist, in dem die Figur geschaffen ist, ist in jeder Einzelheit griechisch.

Die schurzbekleideten ägyptischen Steinskulpturen sind durch einen Pfeilerblock tektonisch gebunden, leblos trotz der Wahrheit der Körpermodellierung, der stolz nackte griechische Jüngling steht aus eigener Kraft auf seinen Füßen, nicht festgewurzelt, sondern mit leichten Sohlen auftretend: die Fersen sind frei gerundet mit der Leichtigkeit des griechischen Idealismus, der sich um einer höheren Bedeutung willen mit kleinen Zügen unbekümmert über die Wirklichkeit hinwegsetzt.

Bei den ägyptischen Figuren sind die Arme steif gestreckt, hier ist wenigstens der Versuch gemacht, sie in den Gelenken hängend zu bilden, dort sind die Augen mit schmaler Lidspalte nur halb geöffnet, hier dem „lieben Licht der Sonne‘‘ in weiter Rundung aufgetan. Wieder soll erst Dädalos die bis dahin geschlossenen Augen der Statuen offen gebildet haben. Das mag Mißverständnis oder Übertreibung sein, die Nachricht beweist, daß die Griechen der späteren Zeit den Beginn wirklicher Kunst von dem Augenblick ab rechneten, wo ihren Künstlern der Wert des Auges, des am meisten ästhetisch empfindenden Organs, ins Bewußtsein trat.

Bei so vielen Unterschieden bleibt doch

eine wichtige Übereinstimmung zwischen der Jünglingsfigur aus Tenea und den ägyptischen Werken bestehen, die strenge Gebundenheit in die reine Frontstellung und damit die vollkommene Symmetrie der rechten und linken Körperhälfte.

Hier mußte die weitere Entwicklung einsetzen, die Haltung mußte gelöst, die strenge Entsprechung durch freies Gleichgewicht ersetzt werden, wenn überhaupt der Anschein wirklichen Lebens gewonnen werden sollte.

Diesen scheinbarsoeinfachenSchritt in die Freiheit haben nur diegriechischen Künstler zu tun vermocht, weder im antiken Orient nochin Ägyptenistandas entscheidende Problem mit Entschiedenheit gerührt worden.

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Die Belebung der Körperformen bei ruhigem Stand der Figur wird gewonnen, wenn der Künstler sich entschließt, die Körperlast ungleich auf beide Füße zu verteilen. Der Gegensatz von Stand- und Spielbein wirkt auf den ganzen Körper, die Glieder lösen sich, die Muskeln schieben sich auf der einen Seite vorquellend zusammen und straffen sich auf der andern Seite, die ganze Oberfläche des Leibes gerät in Bewegung, wie das lose und dichte Ringgefüge eines Kettenpanzers. Über ein Jahrhundert lang hat sich eine Folge von Künstlergenerationen an der Lösung dieser Aufgabe abgemüht, die alle andern Aufgaben der lebensgemäßen Darstellung des menschlichen Leibes in sich schließt. Denn eine wirkliche Lösung des Problems ist nur möglich, wenn der Künstler von der Architektur des Knochengerüstes, von den Funktionen der Muskeln und Sehnen und von dem Zusammenhang der einzelnen Glieder eine deutliche Vorstellung hat.

Leichter als das überaus verwickelte Formensystem des Körpers war der tektonische Fall der Gewandfalten aufzufassen und nachzubilden, und darum gelang auch die Darstellung gelösten Standes bei den bekleideten weiblichen Figuren früher als bei den nackten männlichen, in denen aber schließlich doch das Problem erst wirklich gelöst wird.