Griechische Bildwerke : mit 140, darunter etwa 50 ganzseitigen, Abbildungen

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14.

Jede einzelne Epoche der griechischen Kunst hat ihren unersetzlichen Wert. Die Formbestimmtheit der nackten Helden aus den äginetischen Giebelfeldern ist so einzig wie die lächelnde Grazie der gleichzeitigen ionisch-attischen Frauenbilder, so einzig wie die arkadische Anmut der praxitelischen Gestalten. Und doch mag alles das zugrunde gehen, wenn nur die Skulpturen des Parthenon erhalten bleiben. Zerbrochen, trümmerhaft, bleiben sie das Größte, was die Kunst des Altertums hervorgebracht hat.

Davon kann kein Bild und kein Abguß eine Vorstellung geben. Der Gips zerstört den Zauber der Marmorarbeit, er entgeistigt die Figuren, indem er den Eindruck der Masse vergrößert.

Der Parthenontempel auf der Burg von Athen ist mit seinem gesamten Skulpturenschmuck das Werk der Epoche des Phidias und des Perikles. Um die Mitte des V. Jahrhunderts v. Chr. begann der Bau, im Jahre 438 wurde das Athenabild aus Gold und Elfenbein dem Kultus übergeben, als der peloponnesische Krieg begann, waren auch die Skulpturen vollendet.

An diesen Arbeiten hat die attische Marmorkunst sich zur Reife entwickelt. Man spürt das Wachsen des künstlerischen Vermögens in der Reihe der Metopen, von denen einige neben der gleichmäßigen Freiheit des Frieses noch streng und gebunden erscheinen.

Die annähernd quadratischen Relieftafeln stellen in Einzelgruppen aufgelöste Kämpfe dar, der Götter mit den Giganten, der Athener mit asiatisch gekleideten Feinden, vielleicht den Amazonen, der Lapithen mit den mädchenräuberischen Kentauern. Diese letzten sind die vollständigst und best erhaltenen. Der Sieg gehört bald den Griechen, bald den Kentauren. Welche Freiheit des Geistes und welche Gewißheit innerer Überlegenheit beweist dies Volk, indem es sich mit gleicher Unbefangenheit bald siegend, bald besiegt darstellt. Und welche Wahrhaftigkeit in dieser Kunst.

Auch der Festzug, der als Fries das Tempelhaus innerhalb der Säulenhalle oben

umläuft, ist keine Selbstverherrlichung, nichts weniger als ein Siegeszug; es ist eine schlichte Selbstdarstellung ohne einen Gedanken von Selbstgefälligkeit. Das Volk von Athen, das sich selbst gleichsam den Göttern darbringt. Denn die Götter, einfache Ebenbilder der Menschen, sind auf schlichten Sesseln sitzend, an der Sonnenaufgangsseite des Tempels gegenwärtig dargestellt, nicht mächtiger gebildet, als daß die stehenden Menschen die Größe der sitzenden Götter erreichen, und vor ihnen endet der lange Zug von Jungfrauen mit Opfergerät, von Männern und Jünglingen. Einige leiten die willigen oder widerspenstigen (aber nicht störrischen) Opfertiere, andere gehen zu Fuß, wieder andere lenken das feurige Dreigespann oder reiten die Rosse, deren Hufschlag klingen soll wie der Klang gegeneinandergeschlagener Metallbecken. Die letzten endlich, auf der Westseite, vollenden und rüsten erst Kleidung und Schirrung. Das Volk Athens, der Stadt, die Thukydides in Perikles’ großer Leichenrede wenige Jahre später die Erzieherin von ganz Griechenland genannt hat.

Man spricht bei den Figuren des Frieses von typischer Bildung, weil alle den gleichen großen Zuschnitt haben, dessen Eindruck dadurch verstärkt wird, daß jeder Einzelne ganz bei der Sache ist: ein gleichmäßig feierlicher Ernst beseelt alle in der Erfüllung der einen heiligen Pflicht des Zuges zu den Göttern. Es bleibt kein Raum zu Äußerungen persönlichen Wollens und Wünschens, wenn alle Gedanken auf einen Zweck gerichtet sind, wie hier. Aber trotz der bewußten Beschränkung individueller Charakteristik und trotz der durch den Gegenstand gebotenen Gleichmäßigkeit der Empfindung ist jede Gestalt ein bestimmter unvergeßlicher Mensch. Nur prägt sich die Besonderheit jedes Einzelnen nicht in den Zügen des Gesichtes aus — wo wir den Ausdruck der Persönlichkeit fast allein zu suchen und zu sehen gewohnt sind, sie erfüllt die ganzen Gestalten; hier aber in einem Maße, daß man für jeden Einzelnen den Namen suchen möchte, auf den er hört. Ja jedes Tier ist in Haltung und