Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

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in Conſtantinopel als eine Verleßung des Waffenſtillſtandes, und einen Marſh nah Gallipoli als einen Schritt bezeichnet, für deſſen Folgen man in Anbetracht der Erregung im engliſchen Volke nicht einzuſtehen vermöge. England rief den Ruſſen ein gebieteriſhes Halt zu, indem es ſeine Entſchloſſenheit erklärte, für die Conſequenzen niht gutſtehen zu können, wenn die Ruſſen Truppen gegen Gallipoli verſchieben und hierdur< die Verbindungen der engliſhen Flotle bedrohen würden. — England, deſſen Panzerungethüme im Angeſiht Conſtantinopels ſttationirten, gebot den Ruſſen ein gebieteriſhes Halt, Stambul zu betreten, deſſen Vorſtädten ſih die nordiſchen Krieger bereits genähert hatten.

Gegenüber dieſer rauhen Sprache wollten die Kniffe der ruſſiſ<hen Regierung$organe niht verfangen, wel<he mit geheuheltem Triumphgefühl als Conſequenz dex Einfahrt der engliſchen Flotte in den Bosporus gegen den Proteſt des Sultans ledigli<h die Verlezung des Pariſer Vertrages conſtatiren wollten. Die Türken ihrerſeits hatten ſchier das Unmögliche gethan, um dieſe britiſche Flotten-Demonſtration zu verhindern. Die Engländer fühlten ſi< natürlih ſehr unangenehm berührt von dem geheimnißvollen Verfahren der Ruſſen und waren gekommen, um ihre, und wie ſie ſagten, die türkiſchen Funtereſſen zu wahren. Aber die Türken, von Rußland an der Kehle feſtgehalten, ſahen niht re<t ein, was ihnen dieſe verſpätete Protection Englands nüten ſollte, namentli<h bei der beharrlihen Unthätigkeit Deſterreih-Ungarns, | der zur Verzweiflung treibenden Zurüchaltung des Grafen Andraſſy und dem Stillſchweigen, das in Ungarn herrſchte, wo no< vor Kurzem die öffentlihen Sympathien für die türkiſche Sache ſi< ſo lärmend kundgaben. Die Ruſſen waren gewandte Leute. Fhre Pläne waren ſeit Langem vorbereitet und ausgereift, und ſie hielten alle Drähte in Händen, an welchen ſie die Türken in Bewegung ſetzten.

Der Sultan hielt ſfi< überzeugt, daß er nur dur ſie allein no< ſeine Dynaſtie retten könnte und daß jede bewaffnete Futervention die Frage wegen Conſtantinopels mit Aus\<luß der Türken und gegen ſie regeln würde.

Durch das Herannahen der engliſchen Flotte einerſeits, und den in Folge deſſen angedrohten Einmarſch der Ruſſen andererſeits war im Serail eine fur<tbare Verwirrung entſtanden. Man be{loß, einen außerordentlihen „großen Rath“

einzuberufen. Als der Sultan ſi< zu dieſem letzteren begab, überreihte ihm Server Paſcha“ ein über ſeinen Auftrag verfaßtes Expoſé der Lage. Vor der Sißung las Abdul Hamid dieſes Expoſé mit vor Bewegung zitternder, faum vernehmbarer Stimme vor. Die Verſammlung hörte lautlos zu. „Nicht ih, mein Volk hat den Krieg gewollt,“ rief der Sultan, nachdem er das Expoſé verleſen hatte, aus; „wir wurden beſiegt und Fhr ſeht nun, wohin wir gelangt ſind. Die Engländer ließen mi< wiſſen, daß ſie die Durhfahrt dur< die Meerengen forciren würden, wenn ih mi derſelben widerſeßen wollte, während andererſeits die Ruſſen mit der militäriſhen Beſeßzung Conſtantinopels, im Falle der Einfahrt der engliſhen Flotte in den Bosporus, drohen. Jh habe Euch rufen laſſen, damit wix zuſammen über die Lage ſchlüſſig werden.“ Sich an die Generale in der Verſammlung wendend, fragte der Sultan: „Jt es mögli<, den Vormarſch der Ruſſen aufzuhalten und die Beſetzung der Hauptſtadt zu verhindern ?“ — „Nein!“ antwortete man ihm. — Sodann ergriff Reouf Paſha das Wort und ſagte, man müſſe den Großfürſten Nikolaus bitten, ſich auf die Beſezung der Umgebung Conſtantinopels zu beſ<hränken. Man beſchloß ſofort, daß der Sultan ein in dieſem Sinne abgefaßtes Telegramm an den Czaren ri<hten ſolle, was au< no< während der Sitzung geſchah. Schweigend, betrübt das Haupt ſchüttelnd, den thränenumflorten Bli> dur< die hohen Fenſter ſeines Kiosks auf den Palaſt in DolmaBagdſche und auf die Wäſſer des Bosporus rihtend, hörte Abdul Hamid den verſchiedenen Vorſchlägen zu. Plöblih erhob er ſi< und verabſchiedete die Verſammlung, ohne daß dieſelbe zu irgend einem Entſchluſſe gekommen wäre. Der Sultan beſchloß, Conſtantinopel zu verlaſſen, und ſi< in die ehemalige Hauptſtadt der Sultane, Bruſſa, zu begeben. Die Nachricht von der Abreiſe des Sultans verbreitete ſi< mit Blibesſchnelle im ganzen Palaſte und drang bis in den Harem. Die Weiber daſelbſt brachen in die jämmerlichſten und ohrzerreißendſten Klagerufe aus. Es war ein entſeßli<her Tumult. Die Miniſter eilten in den Palaſt. Sie ſtürzten vor dem Sultan auf die Knice und erklärten, daß ſie ihm nah Bruſſa zu folgen bereit ſeien, wenn er die Hauptſtadt verlaſſen würde. Es entſpann ſih eine lange Debatte, und ſ<ließli< beredete man den Sultan, in Conſtantinopel zu bleiben.

Der Friede von Han Stefano.

Am 24. waren 1500 Ruſſen in San Stefano und den weſtlihen Vorſtädten Conſtan-

y tinopels eingerüd>t.

Die Friedens-Unterhandlungen in Adrianopel hatten unterdeſſen fortwährend ſtattgefunden, Die Bedingungen erſchienen den Bevollmächtigten all-