Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen : Voyslav M. Yovanovitch, 'La Guzla' de Prosper Mérimée, Étude d'histoire romantique.

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colonel Voutier, Paris.lß26, aus denen er zwei Anekdoten zu der erwähnten Ballade verarbeitet. Überall wird unerbittlich der Schleier gelüftet, hinter dem er das Geheimnis seiner literarischen Taschenspielerkunststückchen hüten wollte. Eines der typischsten Beispiele für sein Verfahren bietet die Ballade Le Morlaque à Venise-. Theokrit liefert den Stoff, ChaumetteDesfossés das Lokalkolorit. Um dann die Spur zu verwischen, wird eine Anmerkung mit persönlicher Note hinzugesetzt: das Impromptu sei auf sein Gesuch von einem alten Morlackeu für eine englische Dame gemacht worden. Endlich soll die ganze Geschichte einen literarischen, wissenschaftlichen Anstrich bekommen und zugleich der Jagd nach ähnlichen Motiven vorgebeugt werden dadurch, dafs der Schelm auf ein kirgisisches Lied hinweist, das eine auffällige Analogie biete. Bei diesen Quellenforschungen begnügt sich Yovanovitch aber nie, einfach die Motive nachzuweisen, er zeigt zugleich als begeisterter Mériméist mit feinem Verständnis und Geschmack, wie sorgfältig der Dichter im einzelnen verfahren ist, und wie er all dem, was er als Stoff anderen schuldet, eigenes Leben zu geben weife. Und in der Tat, nur so wird eine solche Quellenstudie, wenn sie nicht eine einfache Detektiv- oder Staatsanwaltsarbeit „sein will, zu einer wertvollen Untersuchung für den Literarhistoriker, den Ästhetiker und den Schriftsteller oder Dichter, weil sie eben lehrt, wie das Genie dem für künstlerische Gestaltung ziemlich gleichgültigen Stoffe Leben einzuhauchen vermag. Wie gründlich und umsichtig Yovanovitch vorgeht, zeigt namentlich auch der Teil seines Buches, der über das ‘Wunderbare’ in der Guxla handelt. Zuerst wird uns eine Geschichte des Vampirismus gegeben. Auf die Spezialstudien gestützt, zeigt er das Eindringen des Wortes und der Sache in den Westen Europas um das Jahr 1730, die seltsamen Blüten, die der Aberglaube in Wissenschaft und Religion treibt, die Abtötung, die er durch den Spott und den Unwillen der Aufklärer, voran Voltaire und Rousseau, erleidet. Dann sehen wir, noch bevor das Jahrhundert sein Ende erreicht, den siegreichen Einzug desselben grausigen Stoffes in die romantische Literatur. An der Spitze steht Goethe mit der ‘Braut von Korinth’, an der sich Th. Gautier inspiriert und Byron. Um 1820 wurde Paris von einem förmlichen Vampirfieber ergriffen, nachdem der Stoff auf die Bühne gelangt war; jedes kleine Theater wollte seinen Vampir haben. Noch 1902 taucht derselbe Stoff gelegentlich wieder im Mercure de France auf, nur dafs er sich zur Abwechselung diesmal in ein indisches Gewand kleidet. Yovanovitch hätte für unsere Tage auch noch Strindberg erwähnen können. Aber in der uns hier besonders interessierenden Zeit (1820—30) wird die Welt in Atem gehalten durch die école de cauchemar oder das genre frénétique, deren Begründer Nodier war. Dann folgten zunächst Balzac und V. Hugo, und wenn sich auch Goethe 1830 mifsbilligend darüber äufsert, so ist er doch gewissermafsen mit verantwortlich, da seine in dieses Gebiet gehörenden Balladen damals in Frankreich gefeiert wurden. Das ist nun der Geist, das der literarische Hintergrund, die Mérimée veranlafst haben, sich mit Magie und mit Werken über die übersinnliche Welt zu beschäftigen. Es gehörte einmal dieses Thema zum ‘Volkston’ und daher durfte cs auch in der Guxla nicht fehlen, zumal dieser Aberglaube auf der Balkanhalbinsel und an der adriatischen Küste weite Verbreitung gefunden hatte. Fortis hat auch hier den Weg gewiesen, und was Mérimée in einer Anmerkung über dieses Thema ausführt, ist nur eine Stilisierung und Erweiterung einiger Seiten der Dissertations sur les apparitions des anges, des démons et ries esprits, et sur les revenants et les vampires, die der geehrte R. P. dum Augustin Calmet 1746 veröffentlicht hatte.