Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 2.
Noman von Georg Hartwig. 45
die drohende Frage ihrer Zuchtmeiſterin : „Was haſt Du meinem Neffen angethan?“ Ein Fieberſchauer riß dieſe Phantaſiegebilde aus einander. Jrma ſchwankte. Hier le= bendig begraben, und dort die weite, lo>ende Welt! Wie ein Blibſtrahl fiel ihr der Gedanke in die Seele: wenn ſie fort ſollte, fort mußte, wenn ſie von ihrem Gatten auf gegeben wax, was konnte ſie dann veranlaſſen, ſeinem tyran=niſchen Willen noh weiter Folge zu leiſten? Und wie Centnerlaſt fiel es ihr vom Herzen. Die Freiheit, die langz erſehnte Freiheit warf ein glü>liher Moment jebt gleich einem Gnadengeſchenk ihr in den Schoß.
Jxma, das Kind des Augenbli>s, war ſofort wieder ſie ſelber. „Frei!“ rief ſie und faltete die Hände dankend in einander. „Mein Gott, warum ließeſt Du mich ſo graufam leiden? Frei, für immer! Zu Freiberg nun, zu ihm!“ Doch Schamnrdöthe bede>te jäh ihre Wangen. „Jeßt ſollte ih vor ihn treten als hilflos Bittende? Ach, das hieße eine Willkür mit der anderen vertauſchen! Wenn er mich ſucht, wird er mi finden!“ Sie gedachte ſehnſüchtig ſeines flehenden Bli>kes, ſeines heißen Lächelns, aber die Prophezeiung ihres Gatten tönte dazwiſhen. E3 war ein ſ{<werer Kampf, doch Jrma’s Stolz beſiegte das entehrende Verlangen.
Draußen dämmerte der Morgen. Noch regte ſich nichts im Hauſe. Auf der Straße dröhnte das Raſſeln des ſchwer= fälligen Poſtwagens, welcher nah dem Poſtgebäude fuhr. Wie ein glü>verkündender Gruß drang dieſes Geräuſch in das lauſchende Ohr der jungen Frau. Sie ſah ſi<h im Gemach um, ſie horchte an der Thüre des Korridors Alles ſtill. Zwei Kerzen waren verlöſcht, die dritte friſtete