Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 2.
68 Der Talisman des Weibes.
anbelangt, ſo iſt ſie ein Reſultat der Gegenſäßlichkeit, und es trit meinen Neffen der ſchwere Vorwurf, ihr durch die verkehrteſten Heilmittel zum Siege verholfen zu haben. Er mißt eben alle Menſchen na< ſeinem eigenen ſittlichen Werth, und dieſer iſt leider für die Mehrzahl zu erhaben. Schon als Knabe wax ex ein Muſter der Pſlichttreue, der Verſchwiegenheit, der Entſagungs\ähigkeit, aber er verlangte auch, daß ſeine früh verwittwete Mutter in ihm gewiſſer= maßen den Beſchüher erbli>te. Leidenſchaften jeder Art ſind ihm fremd geblieben, ſelbſt das Bedürfniß freundſchaftlichen Anſchluſſes, dagegen konnte jeder Ehrenmann auf ſeine Hilfe und Unterſtüzung unbedingt re<hnen. Fm Verkehr mit Frauen beobachtete ex von jeher eine zarte Rückſichtnahme , die ihm viel Köpfe und Herzen entgegen= zog, aber ledigli< mitleidiger Schonung mit unſeren Schwächen entſprang. Sehen Sie, das iſt ein richtiges Bild meines Neffen, und nun ſagen Sie mir, wie war es möglich, daß er ſi ſelbſt ſo untreu werden fonnte, dieſes heißbliütige, verzogene Kind mit vollſter Fnnigkeit an ſein Daſein zu ketten?“
„Pſychologiſche Räthſel ,“ erwiederte Dreyſing ſ{nell, „löſen fich in der Thatſache auf, daß innere Vorgänge für uns ein Buch mit ſieben Siegeln find — daran herumdeuteln können wix. Und ſo meine ih exſtens, daß fein Mann ungerührt an Jrma's Perſönlichkeit vorüberzuſchreiten vermag, und zweitens, daß ihn ‘die Liebe über ihre un? beſiegliche Eigenart getäuſcht hat. Wie dem auch ſei, das Band iſt zerriſſen. Es iſt meine Pſlicht, bei erſter Gez legenheit —“
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