Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

126 Unter einem Dache.

Bei allem Groll, den Bertha gegen diefen Mann hegte, founte ſie ſih dem imponirenden Eindru>e ſeiner Perſönlichkeit nicht entziehen. Wie er ſo in voller Nähe vor ihr ſtand, mit dem Ausdrue ſelbſtbewußter Kraft und männlich ernſter Entſchloſſenheit in den kühn geſchnittenen Zügen, da ſchien es ihr unfaßlih, daß ein Weib, das einſt diejent Manne angehört hatte, ihn je wieder vergeſſen könne. Aber je flarer ſie ſih wurde über den mächtigen Zaubex ſeiner “Erſcheinung, deſto heißer wu<s in ihrer Furcht für das Herz dex Freundin ihr feindſeliges Gefühl gegen ihn, und fie ſchritt mit finſter zuſammengezogenen Brauen an ſeiner Seite.

„Mein Fräulein!“ ſagte er, „wir ſind in dieſer Einöde den geſellſchaftlichen Förmlichkeiten ſo ferne gerüdt, daß ih wohl auf Jhre Verzeihung rechnen darf, wenn ih eine Frage an Sie richte, die in einem Salon von einem Jhnen fremden Manne ſehr indiskret klingen würde. Sind Ste mit Jhrer Reiſegefährtin vertraut und befreundet, wie es ſo den Anſchein hat, oder verbindet Sie nur eine flüchtige Bekanntſchaft, ein gemeinſames Reiſeziel ?“

„Sie ſind kein Fremder für - mih, Herr Baron v. Stxraaten!“ erwiederte Bertha. „Meine Reiſegefährtin aber iſt meine einzige, beſte, vertrauteſte Freundin, mit dex ih ſeit Jahren jede frohe und trübe Stunde theile.“

„J<h danke Jhnen!“ ſagte der Baron. Dann gingen ſie eine Weile ſ<hweigend neben einander. „Da Sie mich fennen, mein Fräulein, werden auch Sie wohl über das Wunder ſtaunen, das zwei lang getrennte und doh eng verbundene Menſchen hier zuſammen führte,“ fuhr ex