Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Novelle von E. Merk. 131

Bertha hatte ſeinen Worten mit größter Erregung gelauſ<ht und ſeine Handlungsweiſe ſcharf verurtheilt. Hätte er ihr ſein volles Herz gezeigt und die Motive ſeiner Flucht aus der Heimath flargelegt, ſo wäre ſie gewiß gerecht und ïlug genug geweſen, ſeinen Charakter und die dur den= ſelben bedingte That zu verſtehen. So aber ſchien ihr ſein halbes Vertrauen nur die Bemäntelung ſeiner Schuld, feine ſlüchtige Erklärung die leichtſinnige Beſchönigung eines ſchweren Unrechtes.

„Ein echter Mann, das heißt ein eter Egoiſt !“ lautete ihre ſhonungsloſe Kritik. „Er war zu ruhelos für ein ſtilles Glü>; darum ſuchte ex in der Ferne ein wilderes, bewegteres Leben. Nun, da ex überſättigt, müde, die Ju= gend von ſi fliehen fieht, kehrt er heim, und die ver= laſſene Frau, die er zufällig hübſ{< und blühend wieder= findet, ſcheint ihm gerade gut genug, dem treuloſen Odyſſeus eine behagliche Häuslichfeit zu ſchaffen. Die Liebe in ihrem Herzen, deren er zehn Jahre lang nicht bedurfte, mag nun ivieder hell aus ihrem Schlummer erwachen und ſeinem frierenden Gemüthe eine traute Wärme verſchaffen !“

Es war fein verſte>ter Neid, wenn Bertha ſich ſo ſchroff gegen dieſe neu erwachte Liebe für Emilie verhielt; ſie hätte der Freundin alles Glüct der Welt gegönnt, aber ſie glaubte nicht an ſolches Glü>. Aeltere Mädchen kommen ſeicht zu der Ueberzeugung, daß die Che eine lange Leiden8= fette für die Franen ſei. Bertha hatte dur<h das Schi= ſal verſchiedener Altersgenoſſinnen erfahren, wie viel Unheil die Liebe zu ſchaffen vermag, und ſi< in den leßten FJahrey darüber zu freuen gelernt, daß ſie von den Tücken