Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

144 Unter einem Dache.

- = Ein Geſühl kam über ſie, das ihre klare Seele nie gefannt hatte: Reue. Sie zögerte, Emilien gegenüberzuſtehen; nun fürchtete ſie ſih vor den Augen der Freundin, als habe ſie ihr ein Unrecht abzubiiten.

Erſt der Kutſcher, der ungeduldig na<hſrug, ob die Damen nun ecndlih fortzufahren gedächten, verankaßle ſie, an Emiliens Thüre zu fklopfen. Der Riegel ward zurügeſ{oben; die junge Frau ſtand ihr bleich, wie ſchmerzerſtarrt gegenüber.

„Iſt es Dix recht, wenn wix nun unſere Reiſe fork= ſehen, Liebe?“ frug Bertha und bli>te angſtvoll in das traurige Antliß. i

Cmilie ni>te. „Wie Du willſt!“ ſagte ſie gelaſſen mit dem Tone eines Menſchen, der zu gleihgiltig gewor= den iſ, um ſelbſt zu wünſchen und zu beſtimmen.

Mit ſ<werem Herzen brachte Bertha dem Kutſcher den Befehl, ſi<h in einer Stunde bereit zu halten, und ordnete die Rechnung. Als ſie in das Gemach zurükehrte, ſag Emilie auf dem Sopha, das Geſicht auf das harle Polſter gedrüdt. Sie lag ſo regungslos, daß Bertha ſich nux auf den Zehenſpißen zu nähern wagte, aus Beſorguiß, die Schlummernde zu we>en; doch wie ſie nun dicht vox ihr ſtand, ſah ſie mit bangem Schre>en, daß ein krampf: haftes Schluchzen durch die Geſtalt der Freundin zu>te, und hörte ein unterdrü>les, leiſes Weinen.

„Was iſt Dir, liebe Emilie, o ſprih Dich aus, nux nicht dieſes enlſeßliche Schweigen zwiſchen uns! Sag? mir, ivas Dix fehlt!“ :

Sie nahm die blaſſen, kalten Hände liebfoſend in die