Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Novelle von E, Merk. : 145

ihren, ſie redete thr zu mit wachſender Herzenëangſt; aber die gütigen Worte we>ten nur heißere Thränen; Emiliens lebte Kraft ſ{<hwand in der zärtlichen Berührung, ſie drüctte in leidenſhaftlichem Aufſchluchzen das blonde Haupt an die Schulter der Freundin, und ein in Schmexz ver= gehendes Weib lag in Bertha’s Armen. Jhr graute in banger Ahnung vor den Worten, die dieſen faſſungsloſen Jammer erklären ſollten; aber ſie ſuchte ſi< ſelbſt Muth einzureden, während fie die Weinende wie ein Kind zu beruhigen verſuchte. :

„Deine Nerven ſind erregt, Emilie. Es wird beſſer werden na dieſer Thränenfluth, Du wirſt wieder Ruhe finden, armer Scha. J<h bitte Dich, ſchlage die Augen auf! Schau all’ die Schönheit der ſonnenbeſtrahlten Berge, athme die köſtliche Luft, die zum Fenſter hereinſtrömt, und lerne vergeſſen !“

„D Bertha, als ob man vergeſſen könnte, daß man unſagbar elend iſt!“

„Aber, liebſte Freundin ,“ ſtammelte Bertha in dumpfem Schre>en, „was iſt denn heute anders, als es vor wenigen Tagen, als es immer geweſen? Und doch ſchienſt Du Dein Loos, das Du heute ſo bejammern8würdig findeſt, mit großer Faſſung zu ertragen,“

Emilie ſchüttelte den Kopf. „Wenn unſere Seele krank iſt an einem unheilbaren, tiefen Weh, müſſen wir da nicht lernen, mit der wunden Seele weiter zu leben, ohne vor aller Welt unſer Jnnexrſtes preiszugeben? Große Schmerzen ſcheuen die fremden Augen. Aber plöhlich fällt ein

Funke in das verſchloſſene Herz, und die miihſam errungene Bibliothek. Jahrg. 1886. Bd YT. 10