Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

158 E Unter einem Dache,

freiere Luft athmete, ſchwanden die kindiſchen Traumnebel von meiner Seele. J< fing an zu zweifeln. Zuerſt an der Unfehlbarkeit der Mutter, dann an mix ſelbſt. Es dämmerte mix die Ahnung von Pflichten, die ih mit dem goldenen Reif an meinem Finger übernommen, doh nicht exfüllt hatte. Mein Herz empörte ſi<h gegen die alten Klagen über den fernen Gatten.

„Jh will nie wieder ein Wort des Vorwuxrfs gegen Eberhard hören,“ ſagte ich eines Tages zu meiner Mutter. „Und wenn Du ſeinen Namen nicht nennen kannſt, ohne ihn zu ſ{hmähen, ſo laß uns über ihn ſ{hweigen.“ Die Mutter wax ſo betroffen von dieſer erſten Rebellion, daß ſie nichts entgegnete. Eberhard's Name kam niht mehr über unſere Lippen. Jh lernte meine Gedanken verbergen und ohne daß ein bitteres Wort zwiſchen uns fiel, rü>te ih der Mutter ferner und ferner. J< fühlte mi<h ein= ſam. Noch hatte ih feinen Namen für die Sehnſucht, die ih im Hexzen trug. An einem Frühlings8abende aber fam’s iwie eine Erleuchtung über mi<h. J< war im Theater geweſen, hatte zum. erſten Male „Triſtan und Iſolde“ gehört. Ein junger Student, der im ſelben Hauſe mit uns wohnte und uns zuweilen beſuchte, hatte mix ſeine Begleitung angetragen, die ih ohne weitere Bedenken annahm. Ex aber, begeiſtert von dex heißen Liebestragödie, die wix eben mit dur<lebt, vergaß gänzlich ſeine gewohnte Beſcheidenheit und geſtand mix in glühenden Worten ſeine Liebe. Jh gab dem jungen Menſchen eine ruhige, wür= dige Antivort, während ih mi< kaum eines Lächelns ex= wehrte. Aber als er nun mit ſo tief traurigem Geſichte