Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

160 — * Ünter einem Dache,

Bertha, es iſt bitter, es geſtehen zu müſſen — ih fand na< dem Tode meiner -Mutter die Briefe meines Gatten, die ſie mix unterſchlagen hatte. Jh las nun na< Jahren ſeine Worte der Liebe, der Sehnſucht! Jn jeder Zeile las ih ſeine Hoſfnung- auf unſere Wiedervereinigung. Nun war ja jeder Schatten von ſeinem Bilde getilgt; wir nur blieben die Schuldigen und i<h wollte ja gerne um Vex= zeihung bitten für mi<h und für die Mutter. O, ich hatte ſo ſ{ön geträumt |“ :

Emilie ſprang auf und die Stirne an die Scheiben des Fenſters gepreßt, murmelte fie in dumpfem Schmerze : „Bertha! Du haſt es ja miterlebt dieſes lang erſehnte Wiederſehen! Du weißt, daß er mich anbli>te, kalt und gleichgiltig wie eine Fremde! Du ſahſt es ja, daß er mich zum zweiten Male verlaſſen, verſ<mäht hat. Und Du wunderſt Dich, daß ih mi< unglüdſelig, unſagbar elend nenne? Aber Worte können es ja nicht ausdrü>ett, wie mix zu Muthe iſt. Komm’, “ fuhx ſie in ſteigender tilder Leidenſchaft fort, „komm, wir wollen fortwandern hoch hinauf in die Berge und auf dex höchſten Spiße will ih mein Elend hinausſchreien in die erbarmungsloſe Welt und meinem Leid ein Ende machen dur cinen Stuxz in die Tiefe !“

Schaudernd vor den eigenen Gedanken flüchtete fie ſi zurü> in die Arme dex Freundin und drü>te die glithen=z den Wangen an deren Bruſt. Sie ahnte niht, an welchem ſchweren Herzen ſie Troſt ſuchte. Bertha hatte Folter= qualen erlilten während der Erzählung Emiliens. Dex Shlußſaß war gleichſam die leßte Schraube, die ſi< um ihr gemartertes Herz zuſammenzog. Was katte ſie gethan!