Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

162 Unter einem Dache.

ſi wenden wolle. An das Fräulein habe ex ein Villet zurüdgelaſſen. Mit zitternder Hand erbra< Bertha das Blatt; es enthielt nur die wenigen Worte:

„Zh will in den Bergen herumirren während einiger - Tage, um in tiefem Schweigen mi ergeben zu lernen in das unabänderliche Schitſal des einſamen Wanderers. Leben Sie wohl und vergeſſen Sie niht ganz

Jhren Freund.“

So war ex denn geſchieden auf immer; ſie ſollte ihn nicht wiederſehen! Bei dem Gedanken fam zum erſten Male ein ſolches Gefühl des Alleinſeins und der Verlaſſenheit ibex Bertha's Herz, wie ſie es bi8her nie empfunden hatte. Wax es nur der Nachklang der leidenſchaftlichen Sehnſucht, die ſie aus Emiliens Munde vernommen, was ihr ſo ſchwer und ſ<hmerzli< auf der Bruſt lag, oder fühlte ſie deshalb das Leid der Freundin ſo tief, weil ihre eigene Seele blulete in einem bitteren Abſchiedsweh? Sie konnte fi nicht Rechenſchaft darüber geben. Sie wußte nux, daß fie fi no< in keiner Stunde ihres Lebens ſo hilflos erſchienen war, daß ſie niemals aus ſo ſ<werem Herzen aufgeſeufzt hatte wie jebt.

„Wir wollen die Reiſe für jeßt aufgeben, Emilie,“ ſagte ſie mit zitternder Stimme , als ſie zu der Freundin zurü>gekehrt war. „Glaube mix, Kind, es iſt viel beſſer, wenn wir in die Stadt zurü>ehren, wo Du Ruhe, Ord= nung, Pflege findeſt.“

Emilie widerſprach nicht. „Verzeih? mix, arme Bertha,” ſagte ſie in ihrem müden, gelaſſenen Tone, „daß ih Dich der Freude beraube!“