Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Novelle von E. Merk. 163

„Denk nicht an mi!“ ſ{<rie Bertha auf. Sie mußte vor Emiliens ſanften Worten alle Selbſtbeherrſ<ung auf= bieten, um niht in reuevolle Thränen auszubrechen.

So verließen die beiden Freundinnen denn das einſame Haus, in wel<es der Stim ſie verweht hatte, Die Kinder des armen Arbeiters brachten ihnen Blumen in den Wagen. Schweigend fuhren ſie dahin durch den ſonne= getränkten Bergwald, abwärts, abwärts, der Ebene zu. Drei Stunden ſpäter ſaßen ſie im Eilzuge und betraten etwa um Miiternacht die ſtille, behagliche Wohnung, die nah den Eindrü>en der kurzen Reiſe ihnen ganz fremd erſchien. Bertha ſ{loß die Augen nicht; die Gedanken, was ſie am Morgen beginnen ſollte, um ihr Unrecht gut ¿u machen, ließen ſie niht zur Ruhe kommen. Exſt als auf den Straßen ſchon das Stadttreiben begann, ſank ſie in einen Morgenſchlummer, dex ſie ſo der Gegenwart ent= rüdte, daß ſie ſich, erwachend, exſt beſinnen mußte, wo ſie ſei, was ihr denn geſchehen, denn der Druck auf dem Herzen war mit ihr erwacht. Nun horchte ſie geſpannt in das Nebenzimmer, oh Emilie no< ſchlafe; es blieb ganz ſtill. Sie kleidete ſich raſh an und trat in das Gemach der Freundin. Es war leex. Emilie mußte be= reits ausgegangen ſein.

Ein Todesſchrecken faßte ſie an. Emiliens Worte famen thr wieder in den Sinn: „Und ih will meinem Leid ein Ende machen dux< einen Sturz in die Tiefe!“ Grauenvolle Bilder traten ihr vor die Seele, ſie ſah die Freundin auf der Brüe ſtehen, ſi<h über das Geländer herabbeugen in den Strom; ein Sprung! und die geliebte