Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Novelle von E. Merk. 165

„Was willſt Du?“ frug Emilie und ſah ſie mit den müden, glanzloſen Augen an. Den Becher mit dem weißen Pulz ver hatte ſie bei Seite geſtellt.

„Emilie ,“ rief Bertha, leidenſchaftlich ihre Hände ergreifend, „glaubſt Du, daß ih Dich lieb habe, wie Nie= mand, Niemand in der Welt ?*

„Gewiß, gewiß,“ gab die tonloſe Stimme zurü>. „Aber ſiehſt Du, Bertha, wenn Du ſelbſt einmal geliebt hätteſt, Du würdeſt wiſſen, daß auch die beſte Freundſchaft kein Heilmittel iſt für eine unglü>liche Liebe.“

„Abex Du willſt zu dem fürchterlichſten Heilmittel grei= fen und denkſt nicht, daß ih verzweifeln muß, wenn Du von mix gehſt! O, laß Dich beſ<wören, wenn Du nux einen Funken von Neigung für mich übrig haſt, ſo gib mix das Pulver, das eben no auf dem Tiſche lag. Emilie, Emilie, Du darfſt nicht ſo grauſam an mix handeln!”

„Was willſt Du?“ murmelte Emilie, ihren Bli>en ausweichend. „Das Pulver — es iſt nur ein wenig Mor vhium — für heute Abend; ih brauche Schlaf — Ruhe, Bertha, viel Ruhe!“

„ZJch wußte es!“ ſchrie Bertha auf.

Ein ſchwerer Kampf bebte dur< ihre Züge, dann warf ſie ſi< plöbli<h auf die Kniee nieder vor der geliebten jungen Frau, umklammerte deren Geſtalt mit bebenden Händen — ſie wollte reden, aber ein Schluchzen aus tieſz wunder Bruſt exſti>te ihre Stimme.

„Jh kann nicht ſprechen !“ ſtammelte ſie endlich. „Seit meinen Kindertagen habe i<h niht mehr geweint und nun liegen die Thränen mix centnerſhwer auf der