Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/1

_ Tiger: Fortpflanzung. Zähmung junger. Mutterliebe. Abrichtung. 411

bezahlt. „Junge Tiger“, fährt Sanderſon fort, „ſind allerliebſt anzuſehen und außerordentlih gutmütig; es iſt aber notwendig, daß ſie entführt werden, ehe ſie einen Monat alt ſind, bevor ihnen das Leben in der Wildnis und Furcht vor Menſchen bekannt geworden iſt, ſonſt ſind ſie niht gänzlich zu zähmen. Sie zeigen große Anhänglichkeit für ihren Herrn, folgen ihm überall hin, liegen unter ſeinem Stuhle und geben ein eigenartiges freudiges Shnauben von ſi, wenn er ſie liebkoſt. Sobald man ihnen Fleiſch verabfolgt, wollen ſie nur noh dieſes nehmen und rümpfen, mögen ſie noh ſo jung ſein, die Naſe am Milchnapfe. Wie ih mich genugſam überzeugt habe, iſt der Glaube grundlos, daß ſie von roher Fleiſ<nahrung verwildern. Jn der That gedeihen ſie nur bei ſolchem Futter ausgezeihnet, und wenn ſie es reihli<h erhalten, iſt vortrefflih mit ihnen auszukommen. Vier Monate alt, ſind ſie ſhon re<ht ſtattli<h und kraftvoll, aber man mag ſie getroſt noh viel länger herumlaufen laſſen. Ein Pärchen hielt ih ſolchergeſtalt, bis es 8 Monate alt war; ſie pflegten miteinander wie mit den Leuten und einem zahmen Bären ſehr hübſch zu ſpielen. Nach meiner Exfahrung ſind derartig zahm gehaltene Tiger weder hinterliſtig noh raubluſtig, zeigen auch keine Anfälle von Wildheit, wenn ſie nur reichlih gefüttert werden. Jh beſaß einſt einen von bedeutender Größe, welcher gewöhnt war, in meinem Schlafzimmer zu nächtigen. Nachdem ih eingeſchlafen, pflegte er gern auf mein Bett zu ſpringen, nahm es jedoh niemals übel, wenn i< ihn dafür ungehalten knuffte und wieder hinunterwarf.“

Die Liebeswerbung geſchieht ruhiger als bei anderen großen Katen, und die Begattung erfolgt meiſt ohne die üblichen Taßenſchläge, obſchon niht gänzlih ohne Murren. Gegen die neugeborenen Jungen benimmt ſi<h die Mutter, falls ſie genügende Milch hat, außerordentlih zärtlih, geht ungemein ſanft mit ihnen um, legt ſie an das Geſäuge, ſhleppt ſie au ſtets an den Ort ihres Käfigs, welcher ihr die meiſte Sicherheit zu bieten ſcheint. Manche Tigermütter betrachten die ſonſt geliebten Wärter von der Geburt ihrer Fungen an mit größtem Mißtrauen und bethätigen ihr Übelwollen verſtändlih genug; andere bleiben ihren Pflegern nah wie vor mit gleicher Anhänglichkeit und Liebe gewogen. Die blind geborenen oder doh nur blinzelnden Auges zur Welt gekommenen Fungen wachſen raſh heran, ſpielen bald mit der gefälligen Alten nah Käßchenart, balgen ſih weidlih untereinander, ziſchen und fauchen in kindlihem Übermute ihren Wärter an, werden endlich verſtändig, exkenntlih für gute Behandlung und allmählih zahm. Auch an Verwandte gewöhnen ſie ſi, ſchließen mit Hunden einen Freundſchaftsbund und können, verbürgt [cheinenden Angaben zufolge, mit anderen großen Katen, beiſpielsweiſe mit Löwen, in ein ſo inniges Verhältnis treten, daß ſie eine Paarung eingehen und Blendlinge erzeugen.

Eine Tigerin des Berliner Tiergartens, welche zwei Junge geboren und glü>lih großgeſäugt hatte, ſtürzte ſih wütend auf den Vater derſelben, als dieſer zum erſten Male wieder mit ihr zuſammengebracht wurde, mißhandelte ihn unter lautem Gebrülle mit heftigen Tagzenſchlägen und zwang ihn zu ſhleunigem Rückzuge: offenbar einzig und allein aus Angſt, daß er ihre Jungen gefährden könne, da ſie doh früher im beſten Einvernehmen mit dem Gemahl gelebt hatte.

Man hat in neueſter Zeit auh Tiger oft abgerichtet. Sehr häufig wagen die Tierbändiger, zu ihnen in den Käfig zu gehen und allerlei Spiele oder ſogenannte Kunſtſtü>ke mit ihnen zu treiben. Allein eine gefährlihe Sache bleibt das immer. Als e<hte Kage zeigt der Tiger ſich denen, welche ihm ſ{<hmei<heln, anhängli<h und zugethan, erwidert auh wohl Liebkoſungen oder nimmt ſie wenigſtens ruhig hin; doh bleibt ſeine Freundſchaft ſtets zweifelhaft, und wohl bloß ſo lange, als er die Herrſchaft des Menſchen anerkennt, läßt er von dieſem ſih mancherlei anthun, was ſeiner eigentlichen Natur zuwider iſt. Volles Vertrauen verdient er nie, niht, weil man ſi<h vor ſeiner Tücke, ſondern weil man ſih vor ſeiner ſelbſtbewußten Kraft zu fürchten hat. Tückiſch, hinterliſtig und falſch iſt er ebenſowenig