Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/1

14 Ein Blik auf das Leben der Geſamtheit.

das gerade Gegenteil von alledem ſtattfindet. Auch hinſichtli<h der Stimme iſ der Vogel Bewegungstier.

Über die Verdauung, die Bewegung des Ernährungsſchlauches, wollen wir wenig Worte verlieren. Sie iſt eine ganz vortreffliche, wenn ſie au<h nicht ſo raſh vor ſich geht wie die des Vogels und zuweilen, wie bei den Winterſchläfern, mon>telang unterbrochen ſein kann. Wer ſih hierüber gründlicher belehren will, mag irgend ein Lehrbuch über die Lebensthätigkeit oder die „Phyſiologie“ des Menſchen zur Hand nehmen: dort findet er dieſen Abſchnitt ausführlicher behandelt, als ih dies thun kann. Eine Art der Verdauung darf ih hier aber doh niht übergehen, weil ſie bloß bei wenigen Säugern vorfommt: ih meine das Wiederkäuen. Die nußanwendenden Weisheitsbewunderer der Schöpfung belehren uns, daß viele pflanzenfreſſende Säugetiere notwendigerweiſe Wiederfäuer ſein müſſen, „weil ſie ſi< zum Freſſen niht ſo viel Zeit nehmen könnten“ und deshalb die ihnen nötige Nahrungsmenge auf einmal einzunehmen gezwungen wären; ich, der ih die hohe Zweckmäßigkeit der Schöpfung mit vollſter Bewunderung anerkenne, muß geſtehen, daß ih den Grund, warum es Wiederkäuer gibt, niht kenne. Sollten ſie vielleicht dazu da ſein, um vielen Menſchen durch ihre gerade beim Wiederkäuen erſihtli<h werdende Faulheit zum abſchre>enden Beiſpiele zu dienen?

Es ſcheint, als ob das Geſchäft des Wiederkäuens zu jeder Zeit ſtattfinden könne, ſobald nur das Tier niht mit Abbeißen und Verſchlingen der erſten Nahrung thätig iſt. Eine behagliche Lage und eine gewiſſe Ruhe iſt unbedingtes Erfordernis zum Wiederkäuen; ih wenigſtens habe bisher bloß Kamele während des Laufens wiederkäuen ſehen. Sowie aber die gewünſchte Nuhe des Leibes eingetreten iſt, beginnt der Magen augenbli>lich ſein Geſchäft, und das Tier betreibt die wichtige Sache mit ſolcher Hingebung, daß es ausſieht, als ſei es in die tiefſinnigſten Gedanken verſunken. Fn Wahrheit aber denkt es an gar nichts oder höchſtens daran, daß die faule Ruhe des Leibes in keiner Weiſe unterbrochen werde. Deshalb käut das Leittier eines Wildrudels nur dann wieder, wenn es niht mehr für das Wohl der Geſamtheit zu ſorgen hat, ſondern dur< einen anderen Wächter abgelöſt worden iſt. Das alte, no< immer beliebte Sprichwort:

„Nach dem Eſſen ſollſt du ſtehen Oder tauſend Schritte gehen“ wird von den eß- und verdauungsverſtändigen Wiederkäuern am ſ{<hlagendſten widerlegt.

Solange wir uns mit der rein leiblihen Thätigkeit der Säugetiere beſchäftigten, mußten wir die großen Vorzüge anerkennen, welche die Bewegungstiere oder Vögel, wenigſtens in vielen Stücken, den Mitgliedern unſerer Klaſſe, den Empfindungstieren, gegenüber beſißen. Anders iſt es aber, wenn wir die geiſtigen Fähigkeiten der Säuger betracten. Die Sinnesthätigkeit welche bei den unteren Klaſſen als die einzige geiſtige Regung angeſehen werden muß, iſt auh bei den Fiſchen, Kriehtieren und Lurchen noch eine verhältnismäßig ſehr geringe und bei den Vögeln eine vielfah beſchränkte; bei unſerer Klaſſe aber treten alle Sinne glei<hſam erſt in volle Wirkſamkeit. Jhre einhellige und gleihmäßige Entwi>elung erhebt die Säugetiere hoh über die Vögel. Die leßteren ſind vorzugsweiſe „Augen-“, jene „Allſinnstiere“. Die Vögel ſehen beſſer als die Säuger, weil ihr großes Auge vermöge ſeiner inneren Beweglichkeit in ausgezeihnetſter Weiſe für verſ<hiedene Entfernungen eingeſtellt und ſehſähig gemacht werden kann: ſie ſtehen dagegen in allen übrigen Sinnesthätigkeiten weit hinter den leßteren zurüd. Bei den Säugetieren zeigt ſich ſchon überall mehr oder weniger jene Allſeitigkeit, welhe im Menſchen zur vollen Geltung gelangt: und deshalb eben ſtehen ſie an der Spibe des Tierreiches.