Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3
448 Elfte Ordnung: Paarzeher; fünfte Familie: Hirſche.
wie an der oft nur an einer Stange ausgebildeten Augenſproſſe ſhaufelförmig ausgebreitet, fingerförmig eingeſchnitten und <hwa< gefurcht ſind. Sehr breite Hufe und längliche, aber ſtumpf zugeſpißte Aſterklauen zeichnen dieſe Hirſche aus. Jhre Geſtalt iſt im allgemeinen ziemli<h plump, namentli< der Kopf unſchön; die Beine ſind verhältnismäßig niedrig; der Shwanz iſt ſehr kurz. Nur die alten Männchen haben im Oberkiefer kleine Eclzähne, aber au< niht immer.
Man darf das Renntier als den wichtigſten aller Hirſche bezeihnen. Ganze Völker danken ihm Leben und Beſtehen; denn ſie würden ohne dieſes ſonderbar genug gewählte Haustier aufhören, zu ſein. Dem Lappen und Finnen iſt das Renn weit notwendiger als uns das Rind oder das Pferd, als dem Araber das Kamel oder die Ziege; denn es muß die Dienſte faſt aller übrigen Herdentiere leiſten. Das zahme Renntier gibt Fleiſh und Fell, Knochen und Sehnen her, um ſeinen Zwingherrn zu kleiden und zu ernähren; es liefert Milch, läßt ſi<h als Laſttier benugen und ſ{<hleppt auf dem leichten Schlitten die Familie und thre Gerätſchaften von einem Orte zum anderen; mit einem Worte: das Renntier ermöglicht das Wanderleben der nördlihen Völkerſchaften.
Jh kenne kein zweites Tier, in welchem ſi<h die Laſt der Knechtſchaft, der Fluh der Sklaverei ſo ſcharf ausſpriht wie in dem Renntiere. Es kann kein Zweifel obwalten, daß das heute no< wild vorkommende „Renn“ der Skandinavier der Stammvater jenes Haustieres iſt. Zahme, welche ohne Obhut des Menſchen leben können, verwildern in ſehr kurzer Zeit und werden ſchon nach einigen Geſchlechtern den wilden wieder vollſtändig gleih. Jn Geſtalt und Weſen gibt es aber ſ{<hwerli<h zwei Geſchöpfe, welche bei ſo inniger Verwandtſchaft ſo außerordentli<h ſi< unterſcheiden wie das zahme und das wilde Renntier. Fenes iſt ein trauriger Sklave ſeines armen, traurigen Herrn, dieſes ein ſtolzer Beherrſcher des Hochgebirges, ein gemſenartig lebender Hirſh, mit allem Adel, welcher dieſem ſ<hönen Wilde zukommt. Wer freilebendes Rennwild in Rudeln und zahme Renntiere in Herden geſehen hat und beide vergleichend betrachtet, will kaum glauben, daß das eine wie das andere ein Kind desſelben Urahnen iſt.
Das Renn (Rangifer tarandus, Ceryus tarandus, Tarandus rangifer, arcticus und groenlandicus) iſt ein ſtattlihes Geſchöpf von Hirſchgröße, niht aber Hirſchhöhe. Seine Länge beträgt 1,7—2 m, die Shwanzlänge 13 em, die Höhe am Widerriſte 108 m. Das Geweih ſteht zwar an Größe und no< mehr an Schönheit dem des Hirſches nach, iſt aber immerhin ein ſehr ſtattliher Kopſſhmu>. Der Leib des Renn unterſcheidet ſih von dem des Hirſches vielleicht nur dur< größere Breite des Hinterteiles; Hals und Kopf ſind aber viel plumper und weniger ſchön und die Läufe bedeutend niederer, die Hufe viel häßliher als bei dem Edelwilde; auch fehlt dem Renntiere unter allen Umſtänden die ſtolze Haltung des Hirſches: es trägt ſich weit weniger ſhön als dieſes edle Geſ<höpf. Der Hals hat etwa Kopflänge, iſt ſtark und zuſammengedrüd>t und kaum na< aufwärts gebogen, der Kopf vorn nur wenig verſhmälert, plumpſ<hnauzig, längs des Naſenrü>ens gerade; die Ohren ſind kürzer als beim Edelhirſche, jedo< von ähnlicher Bildung, die Augen groß und ſchön, die Thränengruben klein und von Haarbüſcheln überde>t; die Naſenkuppe iſt vollſtändig behaart, die Naſenlöcher ſtehen ſhräg gegeneinander; die Oberlippe hängt über, der Mund iſt tief geſpalten. Die Schenkel ſind di>, die Beine immer noch ſtar? und dabei niedrig, die Hufe ſehr groß, breit, fla<h gedrückt und tief geſpalten; die Aſterklauen reihen bis auf den Boden herab. Bei zahmen Renntieren nehmen die Schalen ſo an Breite zu, daß man wilde und zahme unbedingt als Arten trennen müßte, wenn man den Bau der Hufe allein in betracht ziehen wollte. Überhaupt ſind die wilden Nenns bei weitem zierlicher und anſprechender gebaut als die zahmen, welche unter der Obhut und Pflege des