Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Edelhirſ<: Sinnesſchärſe. Weſen. Angriffe. 467

hat. An Orten, wo es ſih des Schußes vollkommen bewußt iſ, wird es ſehr zutraulich. Jm Prater bei Wien ſtanden früher ſtarke Trupps der ſtattlihen Geſchöpfe, welche ſih an das Heer der Luſtwandelnden vollkommen gewöhnt hatten und, wie ih aus eigener Erfahrung verſichern kann, ohne Scheu einen Mann bis auf 30 Schritt an ſi<h herankommen ließen. Einer dieſer Hirſhe war nah und nah ſo kühn geworden, daß er dreiſt zu den Wirtſchaften kam, zwiſchen den Tiſchen umherging und die ſhönen Hände der Frauen bele>te, ſie hierdurch bittend, ihm, wie es übli geworden war, Zu>er oder Kuchen zu verabreichen. Dieſes prächtige Tier, welches niemand etwas zu leide that, der es gut mit ihm meinte, aber jedem Ne>luſtigen oder Böswilligen ſofort das kräftige Geweih zeigte, verendete auf eine klägliche Weiſe. Bei einer ungeſchi>ten Bewegung verwi>elte es ſih mit den Sproſſen ſeines Geweihes in eine dur<löcherte Stuhllehne, warf beim Auſrichten den darauf Sigenden unſanft zu Boden, erſchrak hierüber, bohrte die Sproſſen noch feſter in den Stuhl ein, wurde durch dieſe unfreiwillige Bürde aufs äußerſte entſeßt und raſte nun mit höchſter Wut in den Parkanlagen umher, mate alle übrigen Hirſche heu und ſtürzte wie unſinnig auf die Vorübergehenden los, ſo daß man es endlih erſchießen mußte. Bei den Futterpläßen wird das Edelwild oft überraſchend zahm.

Anders verhält es ſih, wenn der Hirſh in einen engen Raum geſperrt wird, oder wenn die Brunſtzeit eingetreten iſt. Jn beiden Fällen wird er oft durch die geringſte Kleinigkeit gereizt und nimmt auh den Menſchen an. Ältere und neuere Jagdbücher wiſſen von vielen Hirſchen zu erzählen, welhe Menſchen, oft ohne Veranlaſſung, angriffen und verwundeten oder umbracten. „Anno 1637“, erzählt von Flemming in ſeinem „Teutſchen Jäger“, „wurden auf dem Schloſſe Hartenſtein täglih ein junger Hirſh und eine arme Magd aus der Hofſküche geſpeiſet. Jm Herbſte trifft der Hirſh das arme Menſch im Walde an und ſtößt es tot. Er wurde aber, ehe ſie begraben worden, erſchoſſen und vor die Hunde geworfen.“ Jn Wildgärten, wo die Hirſche ihre angeborene Scheu vor dem Menſchen nah und nach verlieren, werden ſie viel gefährlicher als im freien Walde. Lenz ſah einen Hirſh auf dem Kallenberge bei Koburg, welcher ſhon zwei Kinder getötet hatte und ſelbſt auf ſeinen Pfleger losging, wenn dieſer ihm kein Futter mehr geben wollte. Fn Gotha ſtieß ein zahmer Hirſch ſeinen ſonſt ſehr von ihm geliebten Wärter in einem Anfalle von Bosheit durchs Auge ins Gehirn, daß der Verleßzte augenbli>li< tot zur Erde ſank; in Potsdam mordete ein ganz zahmer weißer Hirſh ſeinen Verſorger, mit welchem er im beſten Einverſtändniſſe lebte, auf gräßliche Weiſe. Ähnliche Fälle ließen ſich noch viele aufführen. Das Tier iſt nicht liebenswürdiger und anſprechender als der Hirſh, nur minder wehrhaft und gefährlich. Aber auch ſein Zorn flammt wie Strohfeuer auf, und es gebraucht ſeine Schalen mit ebenſoviel Kraft wie Geſchi>é ſobald es ſi< darum handelt, ſeine Abneigung oder ſhle<te Laune kundzugeben. Gleichwohl laſſen ſich Hirſch und Tier bis zu einem gewiſſen Grade zähmen, auh zu mantherlei ſogenannten Kunſtſtükchen abrichten; jede Ziege aber leiſtet in dieſer Beziehung mehr als ſie. Auguſt IIL. von Polen fuhr im Jahre 1739 mit aht Hirſchen; die Herzöge von Zweibrü>en und Meiningen hatten Geſpanne, welche aus weißen Hirſchen beſtanden. Heutzutage ſieht man höchſtens bei Bereitern und Seiltänzern noh eine derartige Verwendung der edlen Tiere. An Futter und Pflege ſtellen gefangene Edelhirſche wenig Anſprüche, halten ſich deshalb auch im engen Gewahrſame ſehr gut, pflanzen ſi ohne Umſtände fort und erzeugen mit ihren nähſten Verwandten fruchtbare Blendlinge. Dies benugend, hat man in neuerer Zeit mehrfa<h und nicht gänzlih ohne Erfolg Verſuche gemacht, den Edelhirſ<h mit dem Wapiti zu kreuzen, um in geſhüßten Gegenden ſtärkeres Wild zu erzielen.

Je nach der Jahreszeit iſt die Äſung des Edelwildes verſchieden. Jm Winter beſteht ſie in grüner Saat und vielen Pflanzen, welche in der Nähe von Quellen hervorſprießen,

30*