Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

500 Elfte Ordnung: Paarzeher; fünfte Familie: Hirſche.

Schon zu Ende des vierten Monats wölbt ſih das Stirnbein des jungen Boes, in den folgenden 4 Wochen bilden ſi kleine, immer höher werdende Kolben, und in den Wintermonaten brehen dann die erſten, 8—10 cm langen Spieße hervor. Jm März ſegt der junge Bo> „mit Wolluſt und wahrem Übermute“, im nächſten Dezember wirſt er die Spieße ab. Binnen 3 Monaten hat ſi das zweite Gehörn gebildet. Es wird ſeiner Zeit etwas früher als im vorigen Herbſte abgeworfen und durch das dritte erſezt. Alte Böke werfen, wie bemerkt, ſhon im November ab.

Man jagt das Reh faſt in derſelben Weiſe wie anderes Hohwild, obwohl man gegenwärtig in niht weidmänniſch behandelten Revieren mehr das Schrotgewehr als die Büchſe zu ſeiner Erlegung anwendet. Von geübten Jägern wird der Bod in der Brunſtzeit dur Nachahmung des zirpenden Liebeslautes ſeines Weibchens herbeigelo>t und dann erlegt. Jn Sibirien errihtet man auf den Wechſeln der Rehe Fallgruben, het ſie, wenn der Schnee beim Schmelzen ſi< mit einer dünnen Eisde>e belegt, mit Hunden und Pferden, fährt ſie mit dem Schlitten an und erlegt ſie, nachdem ſie ſih an das Gefährt gewöhnt haben, ſticht fie nieder, wenn ſie bei ihren Wanderungen die Flüſſe überſezen, treibt jedo< im ganzen niht ärgere Aasjägerei als unſere Wildſhüßen und Bauern. Außer dem Menſchen ſtellen Luchs, Wolf, Wildkaße und Fuchs den Rehen nath, erſtere großen und kleinen ohne Unterſchied, leßtere namentlich den Rehkälbern, welche zuweilen auch dem zwerghaften blutgierigen Wieſel zum Opfer fallen follen.

Der Nutzen, welchen das Reh dem Menſchen gewährt, iſt niht unbedeutend, der Shade, welchen es anrichtet, verhältnismäßig gering, jedo<h immer no< größer als der Nugen. Namentlich in jungen Schlägen hauſt es oft ſ{hlimm und vereitelt in wenigen Tagen jahrelange ſorgſame Arbeiten des Forſtmannes. Bei uns zu Lande nüßt man das öſtliche Wildbret, das Gehörn und die Decke wie das Fell, in Sibirien verarbeitet man die Dee zu Pelzen.

Im Wildgarten wie im Tierzwinger oder im engeren Gewahrſam überhaupt hält ſi< das Reh minder leiht als andere Hirſche, weil ſeinem ungebundenen Weſen aller Zwang zuwider iſt. Jſt der Wildgarten zu klein, ſo kümmert es, geht immer mehr zurü> und {ließli<h ein, auh wenn es reihli< mit ihm zuſagender Âſung verſorgt wird. Jn den Tiergärten re<hnet man das Reh unter diejenigen Tiere, deren Erhaltung ſchwierig iſt. Einzelne von ihnen gedeihen allerdings niht allein unter einer durhaus ſachgemäßen Pflege, ſondern auh unter Umſtänden, welche den erfahrenen Tierpfleger in Erſtaunen verſeßen müſſen, da ſie eigentli gar keine Pflege genießen; ſie aber bilden Ausnahmen von dev Negel. Das Reh erweiſt ſih als ein ſehr wähleriſches, heikliges und ſchwer zu befriedigendes Geſchöpf, iſt weihhli< und hinfällig, pflanzt ſich daher auh feine8wegs regelmäßig im Zwinger fort und geht oft infolge einer ſehr unbedeutenden Veranlaſſung ein. Jung aufgezogen, wird es leiht und in hohem Grade zahm, befreundet ſi< mit Menſchen und Tieren, benimmt ſih wie ein wirkliches Haustier und gewährt dann viel Vergnügen. Doch erlebt man auf die Dauer nur an der Ride, niht aber auh an dem Boke Freude; denn lebterer bekundet mit der Zeit ſein eigentliches Weſen, wird dreiſt, zudringlih und unverſchämt, während die Nike in der Negel ſanftmütig bleibt. Y

„Giner meiner Brüder“, ſagt Dietrih aus dem Win>ell, „beſaß eine gezähmte Ricke, welche ſich in der menſchlichen Geſellſchaft faſt am beſten zu gefallen ſchien. Oft lag ſie zu unſeren Füßen, und gern mate ſie ſih die Erlaubnis zu nuße, auf dem Sofa an der Seite meiner Shwägerin zu ruhen. Hund und Kate waren ihre Geſpielen. Fand ſie ſih von ihnen beleidigt, ſo wurden ſie dur tüchtige Schläge mit den Läufen hart beſtraft. Die liebe Rike ging mit uns oder auh für ſih allein im Freien ſpazieren. Zur Brunſtzeit blieb ſie gewöhnlich, kurze Beſuche abgerehnet, welche ſie ihrem Wohlthäter abzuſtatten nicht vergaß, einige Tage und Nächte hindurh im Walde, kam dann, wenn ſie ſich