Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/2

Kranich: Weſen, Zähmbarkeit. Nahrung. Fortpflanzung. 679

herfielen und ihm dur<h Schnabelhiebe ſo zuſeßten, daß er zur Weiterreiſe unfähig ward, ja, man will geſehen haben, daß ſol<he Miſſethäter wirklih umgebracht wurden; wix haben außerdem in Tiergärten mehr als einmal erfahren, daß verſchiedenartige Kraniche ſih mit bitterem Haſſe befehdeten, und daß einer den anderen tötete. Doch gehören ſolche Vorkommniſſe zu den Ausnahmen, denn eigentlih ſind die Kraniche wohl ne>luſtig und mutig, niht aber boshaft, tü>iſ<h und hinterliſtig. Fhre Stimme iſt ſehr laut, gewöhnlich ein ſ<metterndes, bald jauchzend, bald ſhnarrend ausgeſtoßenes „Gru“, „Kurr““ oder „Kürr“; im Sumpfe oder auf Lichtungen im Walde hört man ſie auh Laute von ſih geben, die den Uneingeweihten exſchre>en können, weil ſie manhmal täuſchend einem entſeßlihen Hilfegeſchrei gleichen.

Unſer Kranich frißt Getreide und Saat, Grasſpißen und Feldpflanzen, ſehr gern Erbſen, nimmt auch einzelne Früchte auf oder erbeutet Würmer und Kerbtiere, insbeſondere Käfer, Heuſchre>en, Grillen und Libellen, fängt auch ab und zu einen Taufroſch-oder einen anderen Lurch. Die erwähnten Scharen, die im Sudan überwintern, fliegen kurz vor Sonnenaufgang in die Durrhafelder der Steppe hinaus, füllen Magen und Speiſeröhre bis zum Schlunde mit Körnern an, kehren zum Strome zurü>, trinken und verdauen nun die eingenommene Nahrung im Laufe des Tages. Der geringſten Schäßung nach verbrauchen die am Weißen und Blauen Nil überwinternden Kraniche gegen 100/000 hl Getreide. Dieſer Verbrauch fällt dort keineswegs ins Gewicht, und wohl nieinand mißgönnt den Vögeln das Futter; anders dagegen iſt es in dem dicht bevölkerten Fndien, wo das gereifte Korn höheren Wert hat: hier werden die überwinternden Kraniche mit vollem Rechte als ſehr ſchädliche Vögel betrachtet und demgemäß mit ſchelen Augen angeſehen, auh nah Kräften verfolgt und vertrieben. Fn der Gefangenſchaft gewöhnt ſih der Kranich an die verſchiedenſten Nahrungsſtoffe, läßt ſih aber mit dem einfachſten Körnerfutter jahrelang erhalten. Er zieht Erbſen und Bohnen dem Getreide vor, ſieht im Brote einen Leckerbiſſen, nimmt aber auch gern gekochte Kartoffeln oder flein geſchnittene Rüben, Kohl, Obſt und dergleichen zu ſih, verſ<hmäht ein Stückchen friſches Fleiſch keineswegs, läßt auch keine Gelegenheit vorübergehen, Mäuſe und Kerbtiere zu fangen.

Sofort nach ſeiner Ankunft in der Heimat nimmt das Kranichpaar Beſiß von dem Sumpfe, in welchem es zu brüten gedenkt, und duldet innerhalb eines gewiſſen Umkreiſes fein zweites Paar, obwohl es jeden vorüberreiſenden Zug mit lautem Rufen begrüßt. Erſt wenn die Sümpfe grüner werden und das Laub der Gebüſche aus\{<lägt, beginnt es mit dem Neſtbaue, trägt auf einer kleinen JFnſel oder Seggenkufe, einem niedergetretenen Buſche oder einem anderen erhabenen Orte dürre Reiſer zuſammen und ſchichtet auf ihnen bald mehr, bald weniger tro>ene Halme und Nohrblätter, Schilf, Binſen und Gras zuſammen, ohne ſih dabei ſonderlihe Mühe zu geben. Auf die ſeicht vertiefte Mitte dieſes Baues legt das Weibchen ſeine 2 großen und geſtre>ten, etwa 94 mm langen, 61 mm dien, ſtarkſhaligen, grobkörnigen und faſt glanzloſen Eier, deren Grundfarbe bald graugrün, bald bräunlich, bald hellgrün iſt, und deren Zeichnung aus grauen und rotgrauen Ünterflecken, rotbraunen und dunkelbraunen Oberfle>en, Tüpfeln und Schnörkeln beſteht, aber vielfach abändert. Beide Geſchlehter brüten abwechſelnd und verteidigen gemeinſchaftlich die Brut gegen einen nahenden Feind, falls derjenige, welcher gerade niht brütet, aber die Wache hält, allein niht fertig werden ſollte. An gefangenen Kranichen, die brüten, kann man beobachten, daß der Wächter mit Wut auf jedes Tier ſtürzt, das ſih dem Neſte nähert und, da er an den Anbli> des Menſchen gewöhnt iſt, dieſen ebenfalls rückſichtslos angreift; die frei lebenden hingegen fliehen leßteren, ihren ſ{limmſten Feind, auh während ſie brüten, ängſtlih. Jhr Neſt verraten ſie nie, bethätigen im Gegenteil bewunderungswürdige Geſchi>lichkeit, ſih während der Brutzeit dem Auge des Beobachters zu entziehen.