Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

450 Zehnte Ordnung: Stoßvögel; erſte Familie: Falkenvögel,

Unter dieſen nun waren ſtets mehrere Dhrengeier, und ſie wurden bald meine Lieblinge. Sie betrugen ſih in der Gefangenſchaft von allem Anfange an ruhig und verſtändig, mir gegenüber furchtlos und in gewiſſem Sinne vertraulih, ganz im Gegenſate zu den Gänſegeiern. Alle waren an Strike gefeſſelt; es fiel aber keinem von ihnen ein, die Kraft ihres gewaltigen Schnabels an ihren Feſſeln zu erproben. Schon am dritten Tage der Gefangenſhaft nahm der erſte Dhrengeier, den ih erlangt hatte, Waſſer zu ſih; am vierten Tage begann er eine vor ihm liegende Kaße, die er 3 Tage verſhmäht hatte, zu bearbeiten; am fünften Tage fraß er bereits vor meinen Augen, und fortan achtete er niht mehr auf mich, au< wenn ih dicht neben ihm ſtand. Später nahm er mir die Nahrung aus der Hand.

Beim Freſſen ſtellt ſi<h der ODhrengeier auf ſeine gerade ausgeſtre>ten Beine, legt alle Federn glatt und nimmt eine vollflommen wagere<hte Stellung an. Das vor ihm liegende Fleiſchſtü> wird mit den Klauen feſtgehalten und dann mittels des Schnabels mit einer Kraft bearbeitet, die mit dem RNieſenkopfe durchaus im Einklange ſteht. Er verſchlingt meiſtens nur fleine Stückchen und nagt die Knochen ſorgfältig ab. Waſſer iſt au<h ihm Bedürfnis: er trinkt viel und badet ſi<, wenn er dies haben kann, ſehr regelmäßig. Jm Zorne ſträubt er alle Federn und faucht wie eine Eule; dabei rötet ſih der nate Fleœen am Hinterkopfe in auffallender Weiſe. Ärgert er ſich mehr als gewöhnlich, ſo pflegt er das im Kropfe aufbewahrte Fleiſh auszubrechen; er frißt es aber auh, wenn Nuhe eintritt wieder auf. Jn einem größeren Geſellſchaftsbauer benimmt er ſih ebenſo ruhig wie in der Freiheit. Er iſt ſi< ſeiner Stärke bewußt und läßt ſih nichts gefallen, wird aber niemals zum angreifenden Teile. Unſer Klima ſcheint leiht von ihm ertragen zu werden, obgleih er Wärme in hohem Grade liebt. Jn unſeren Tiergärten hält man die Ohrengeier Sommer und Winter im Freien. Sie frieren bei ſtrenger Kälte allerdings und geben dies dur heftiges Zittern kund, erhalten dafür aber etwas mehr zu freſſen als im Sommer und trozen dann dem Winter.

Mehr als jeder andere Geier ſteht der Ohrengeier bei den Eingeborenen in ſ{le{<tem Rufe. Man hält ihn niht nur für unrein in Glaubensſachen, wie die übrigen, ſondern auch für Menſchen gefährlih. Gerade von ihm will man beobachtet haben, daß er ſ<lafende Leute angreife und töte.

Die Gänſegeier (Gy ps) kennzeihnen ſi< dur geſtre>ten, ſ<hlanken, verhältnismäßig ſhwachen Schnabel und niedrige Füße, vor allem aber dur ihren langen, gänſeartigen Hals von gleihmäßiger Stärke, der ſi<h ohne Abſaß an den länglihen Kopf anſchließt und ſpärlich mit weißlichen, flaumartigen Borſten bede>t ift. Bei jungen Vögeln ſind alle Federn, namentlich die der Halskrauſe, lang, junge Gänſegeier alſo an ihrer langen und flatternden, alte hingegen an ihrer kurzen, zerſhliſſenen und haarartigen Krauſe mit untrüglicher Sicherheit zu erkennen. Auch hinſichtlih der Färbung findet eine mehr oder minder erhebliche Umänderung des Gefieders ſtatt, wiederum beſonders an den Federn der Krauſe, die bei jungen Vögeln regelmäßig dunkel fahlbraun, bei alten aber ebenſo regelmäßig weiß oder gelblihweiß gefärbt ſind.

Der Gänſegeier, Fahl-, Alpen-, Aas-, Erd- und Weißkopfgeier, Mönchsadler (Gyps fulyus und vulgaris, Vultur fulvus, lencocephalus, albicollis, orientalis und occidentalis) erreiht eine Länge von 1,12, eine Breite von 2,56 m bei 68 cm Fittih- und 30 cm Schwanzlänge. Das Gefieder iſt ſehr gleihmäßig licht fahlbraun, auf der Unterſeite dunkler als auf der Oberſeite, jede einzelne Feder lihter geſchaftet. Die breiten, weiß geſäumten großen Flügelde>federn bilden eine lichte Binde auf der Oberſeite;